Die Lebensläufe stellen innerhalb der Geschichte ein Kuriosum dar. Nachdem wir so oft gehört haben, dass Kastalier keine Kunstwerke erschaffen, erfahren wir im Kapitel "Studienjahre", dass die kastalischen Studenten, die in ihrem Studien ja ansonsten sehr frei sind, während des Studiums mehrere fiktionale Texte abliefern müssen. Theoretisch passen diese Texte, bei denen es sich um fiktive Lebensläufe der eigenen Person in vergangenen Jahrhunderten handelt, insofern zum kastalischen Bildungsideal, dass sich der Student hierfür intensiv mit einer vergangenen Epoche beschäftigen muss. Da der Student aber bei der Wahl von Zeit und Ort frei ist, weicht Knecht mit seinen Erzählungen in wenig nachprüfbare Gefilde aus.
Die erste Geschichte vom Regenmacher ist überhaupt nicht klar einer bestimmten Zeit zuzuordnen. Knecht ist ein junger Mann, der zum Schüler des "Dorfschamanen" wird. Nachdem wir weiblichen Leser uns über die Frauenbilder im Roman hinreichend ärgern konnten, werden wir jetzt ein bisschen entschädigt. Der Schamane oder Regenmacher, wie er von Knecht genannt wird, ist die wichtigste Person im Stamm, neben der Ahnfrau, die die eigentliche Führerin des Stammes ist. Knecht verliebt sich, heiratet, kriegt Kinder. Aspekte des täglichen Lebens, die ihm als Kastalier versagt sind, nehmen keinen geringen Raum in der Geschichte ein. Was seine Lehrer wohl davon gedacht haben mögen? Knecht wird der Nachfolger des Regenmachers und am Ende erdichtet er sich dann hochdramatisch einen Opfertod.
Bei der zweiten Geschichte haben wir eine zeitliche und räumliche Einordnung, indem auf einen Heiligen verwiesen wird. Diesen gab es tatsächlich und Wikipedia nennt 291 - 371 als seine Lebenszeit. Der Heilige gibt aber nicht nur Ort und Zeit vor (Die Geschichte beginnt in Gaza, wo auch besagter Heiliger geboren wurde und zeitweise wirkte), er weist auch bereits auf das Thema hin. Anstelle von Schamanen bekommen wir es jetzt mit christlichen Askethen zu tun. Josephus Famulus kommt erst zur Religion, nachdem er "ein Weltleben geführt und die heidnischen Bücher studiert " hat und entschließt sich mit sechsundreißig Jahren, ein Leben als Eremit in der Wüste zu führen. Man könnte hier vielleicht an den "Älteren Bruder" denken, aber während letzterer völlig mit der Welt im Einklang scheint, ist es bei Famulus neben dem Zuhören wohl vorallem die Kunst der Unzufriedenheit, die er beherrscht. Ist er erst noch begeistert, dass sein Leben einen "Sinn und Inhalt" bekommen hat, indem Menschen ihn aufsuchen, um zu beichten, so erscheint ihm das Hochgefühl, dass er dabei empfindet schließlich als Laster, dass es zu bekämpfen gilt. So ringt er um Gleichmut und als das erreicht ist, fällt er in eine "müde, graue, freudlose Öde". Er denkt über Selbstmord nach, den er als eine Art Menschenopfer sieht. ( Das Thema scheint den jungen Knecht ja wirklich zu beschäftigen.) Die Wende kommt erst, als er Dion begegnet, einem Beichtvater wie er selbst, jedoch einer der droht und Büße verlangt statt einfach nur zuzuhören wie Josephus. Sein Leben ändert sich dadurch gar nicht so sehr, da das Eremitenleben jetzt nur die zweite anwesende Person zulässt. Trotzdem scheint er jetzt mit sich selbst im Reinen und bleibt bis zu dessem Tod bei dem älteren Eremiten. Das Kapitel ist angefüllt von dem Gedanken der Schuld, Sünde, Buße. Die Weltkinder mit ihrem naiven Verständnis von Sünde und die beiden Eremiten, die allein das Gefühl der Sünde bis ins letzte I-Tüpfelchen auskosten können. (Wenn das jetzt ein wenig zynisch klingt, ist das vielleicht die natürliche Reaktion auf diese Art von Heiligkeit und da diese zum Glück nach Meinung von Josephus - und damit Knechts? - unverträglich ist mit Philosophieren bleibe ich doch lieber bei letzterem).
Der dritte Lebenslauf ist der merkwürdigste: eine Geschichte in einer Geschichte in einer Geschichte. Die "Rahmenhandlung" ist die Geschichte von Dasa, dem Sohn eines Dämonenfürsten, der von seiner Stiefmutter um sein Erbe gebracht bei Hirten aufwächst. Er verliebt sich und verlässt die Hirten, um bei seiner Frau, Pravati, zu bleiben. Aber ausgerechnet sein Stiefbruder spannt ihm die Frau aus, worauf er ihn im Zorn tötet. Er schafft es der Verfolgung zu entgehen und schließlich führt ihn sein Weg zur Hütte eines heiligen Mannes, dem er schon als Kind begegnet war. Er versucht dort einige Zeit, ein Leben wie der Yogin zu führen, ohne von diesem aber Unterweisungen zu bekommen. Als er aufbrechen will, fragt er zum Abschied nach der Erklärung, warum der Einsiedler sein Leben zuvor lachend mit dem Wort "Maya" abgetan hat: Was ist Maya? Die Antwort erhält er in Form einer Vision, die die zweite Hälfte der Geschichte umfasst. Hesse verrät dem Leser aber erst am Ende, dass dieser Teil der Geschichte gar nicht zu dem zuvor begonnenen Handlungsstrang gehört. So erlebt der Leser Dasas Aufstieg zum Fürsten mit der verloren geglaubten Pravati als Fürstin an seiner Seite. Die Geburt seines Sohnes. Den Beginn des Krieges mit dem Nachbarland. Die Beziehung zu Pravati leidet zum einen daran, dass sie dem Prunk viel mehr zuspricht als er, vorallem aber daran, dass sie den Krieg will, während er sich nach Frieden sehnt. Schließlich wendet sie sich mehr oder weniger offen einem anderen zu. So stirbt beim Tod seines Sohnes diejenige Person, die Dasa am meisten liebt und er selbst will auch nicht mehr leben. Das also ist Maya, das menschliche Glück und Leid, die ganz großen Gefühle, die der Yogin hinter sich gelassen hat, "wie ... ein Theater, eine Einbildung, ein Nichts in bunter Haut, eine Seifenblase". (Hier reiht sich auch das gleichnamige Gedicht ein). Dasa ist jetzt geweckt worden (die Wortwahl erinnert an das "Erwachen" Knechts) und wird zum Schüler des Yogin.
In allen drei Geschichten spielt die Beziehung eines jungen oder zumindest noch nicht gefestigten Menschen zu einem Lehrer eine nicht geringe Rolle. Der Schüler folgt dabei jeweils dem Lehrer nach, er erstrebt nichts anderes als es dem verehrten Vorbild gleichzutun. Ist das da noch der Weg, den sich Knecht erwünscht? Auf den Spuren des Musikmeisters seine Position im Orden zu finden? Alle drei Lebensläufe geben auch ein Leben in völliger Hingabe an irgendeine Art von Religion wieder. Bedeutet das, dass Knecht für den Orden eine relgiöse Hingabe empfindet? Der ganze Kult um Kastalien scheint ja dazu zu passen.
Rein sprachlich finde ich die Lebensläufe sehr lesenswert. Lange, stimmungsvolle Landschaftsbeschreibungen oder ein Traum von Dasa, der sich in einem einzigen Satz über eine Seite zieht, zeigen dass man auch sehr lange Sätze mit vielen Adjektiven basteln kann, bei denen zumindest ich nie auf die Idee käme, irgendetwas streichen zu wollen. Inhaltlich bringt mir die Tatsache, dass sich Knecht in merkwürdige Heilige und Menschenopfer hineinfantasiert, den Prota leider auch nicht näher. Aber indem sie das Lehrer-Schüler-Motiv immer wieder varieren, unterstreichen sie diesen Aspekt des Buches und haben bei mir den Eindruck verstärkt, dass dies doch ein zentrales Thema des gesamten Werkes sein könnte. Aber ist es wirklich die Aufgabe eines guten Lehrers den Schüler zu einer Kopie seiner selbst heranzuziehen? Wenn der Lehrer das höchste Maß an Heiligkeit, das sein gewählter Lebenspfad ermöglicht, erreicht hat, scheint das nicht verwerflich. Es setzt aber voraus, dass man an die Existenz von so etwas wie "Heiligkeit" nicht nur glaubt, sondern es auch für jedermann für erstrebenswert hält, diesen Weg zu gehen.