22 November 2024, 00:01:47

Autor Thema: Alternative Erzählstrukturen  (Gelesen 11797 mal)

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Wildfee

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Alternative Erzählstrukturen
« am: 10 June 2023, 13:54:04 »
Ich habe die These, dass sämtliche(?) Plot- und Erzählmethoden, die in der "westlichen" Welt verwendet werden, auf eine Grundform runtergebrochen werden können: Einführung-Spannungsaufbau-Höhepunkt-Spannungsabbau-Ausklang.
Nahezu jede Story funktioniert so (Story im Sinne von Roman,Erzählung, grimmsche Märchen, Theatherstück, antike Dramen) (Gegenbeispiele sind mir herzlich willkommen!) und ich frage mich, ob es Gesellschaften gibt, die Erzählungen anders strukturieren. (wenn da jemand Lesetipps hat, ich suche danach!)

Ist eine andere Erzählstruktur schon progressiv? Wie gelingt es trotz ungewohntem oder nicht vorhandenem Spannungsbogen den Leser bei der Stange zu halten? Welche Bücher kennt ihr, die den gängigen Mustern widersprechen?

Ich würde mich freuen, wenn sich hier eine interessante Diskussion entwickeln würde :-)





merin

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Re: Alternative Erzählstrukturen
« Antwort #1 am: 10 June 2023, 15:45:49 »
Hi Wildfee,

oh da hast du ein spannendes Thema begonnen, an dem ich auch seit einer Weile herumdenke. In meinem "Plotten wie die Amis"-Thread habe ich einiges dazu aufgeschrieben, was eine Geschichte ausmacht. Der Autor denkt aber nicht darüber nach, ob seine Sicht darauf vielleicht eurozentristisch ist.
Ich kenne einige der Ananse-Geschichten, die in Ghana sehr verbreitet sind. Die sind eigentlich immer so, dass der Spinnenmann Ananse Leute übertölpelt. Sie entsprechen sehr den hiesigen Schemen, allerdings sind sie möglicherweise auch stark von europäischen Erzähltraditionen beeinflusst. Ich habe mal versucht, mich mit der Akan-Tradition des Linguisten auseinanderzusetzen, allerdings sind die für mich so fremd, dass es enorm schwer ist, sie zu verstehen. Die Leute, mit denen ich darüber sprach, wollten oder konnten es mir nicht so erklären, dass ich es verstanden habe. Mein Gefühl war, dass diese Art des Sprechens sehr von Symbolik und Gleichnissen lebt - und von einer impliziten Hierarchie, die man verstehen muss.

Ich selbst fahre ja die Schiene, dass ich versuche, den Spannungsbogen recht klassisch aufzubauen, aber mich der Zuspitzung zu entziehen, die gerade so Mode ist. Für mich ist das progressiv genug.

Wenn ich mir ansehe, wer Spannung anders gemacht hat und wo das funktioniert, fallen mir mehrere Texte ein, die ich in letzter Zeit gelesen habe:
- Becky Chambers Monk & Robot, aber auch viel von den Wayfarer-Sachen. Es fällt mir enorm schwer zu verstehen, warum die Spannung dort funktioniert, darum kann ich da gar nicht viel Schlaues drüber sagen. Nur dass es funktioniert. Mein Gefühl ist: Solange die Charaktere stimmig sind und der Weltenbau sinnlich gezeigt wird, lese ich es gern.
- June Is: "Gefangen zwischen den Zeilen" - auch das funktioniert eher assoziativ. Mein Gefühl ist, es ist die Freude an den Einfällen, die mich da bei der Stange hält, ähnlich wie bei "Wo beginnt die Nacht" von Sven Haupt
- "Neongrau" von Aiki Mira hat zwar ein klassisches Spannungsmoment, aber es ist enorm unwichtig im gesamten Text, der eher von der Sprachgewalt und den kleinen Weltenbaudetails lebt. Allerdings habe ich mich da zwischendurch schon gelangweilt, muss ich zugeben.

Tja, ist ein anderer Spannungsaufbau schon progressiv? Ich würde behaupten: nein. Slice of life beispielsweise hat meist gar keine Spannung, es ist einfach nur die Faszination am Zusehen und Eintauchen, die uns da hält. Ob das dann progressiv ist, würde ich eher am Inhalt festmachen.

Liebe Grüße
merin
Ich röste zunächst immer, ohne andere Röstungen zur Kenntnis zu nehmen. Dabei ist mein Ansatz der, eine qualifizierte Lesermeinung abzugeben, Euch also zu verraten, wie der Text auf mich wirkt und wie es mir beim Lesen geht und was ich gern anders hätte.

Wildfee

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Re: Alternative Erzählstrukturen
« Antwort #2 am: 10 June 2023, 17:50:28 »
Ich denke beim Abweichen von konventionellen Erzählstrukturen schon an Progressivität. Ich habe das Buch bisher noch nicht gelesen (warum eigentlich, frage ich mich grade), aber mir kommt Cloud Atlas in den Sinn. Der Film ist beim Publikum ziemlich durchgefallen, weil er zu ungewöhnlich, zu anders war und eben nicht der gängigen Struktur gefolgt ist.
Ebenso ungewöhnlich wäre es, ein Buch mitten im Höhepunkt enden zu lassen  :gruebel:

Viskey

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Re: Alternative Erzählstrukturen
« Antwort #3 am: 11 June 2023, 07:42:30 »
Persönlich bin ich mit der Spannungsbogen-Geschichte durchaus zu frieden. Als Gegenbeispiel fällt mir "Briefe an ein nie geborenes Kind" ein. Autorin - keine Ahnung, es ist Jahre her, seit ich es gelesen habe. Es ist eine Erzählung, die eigentlich nur Gefühle erörtert, aber so gekonnt und so poetisch, dass ich heute noch manchmal daran denke, und immer wieder auch denke, ich müsste das mal wieder lesen ... Aber das Buch liegt am Dachboden irgendwo in irgendeiner Kiste ...
Jedenfalls ist es eine Stream of Consciousness-Geschichte. Für einen Roman wahrscheinlich auch zu kurz, und ich habe es fast als störend empfunden, als so etwas wie Plot kurz den Kopf hob.
Ich kann das Buch trotzdem nur empfehlen.

Wenn es jetzt wirklich darum geht, eine Geschichte zu erzählen, mit Plot und Entwicklungen und allem ... puh. Ich bin nicht sicher, ob das ohne Spannungsbogen geht. Vielleicht sollte man dazu Träume genauer ansehen? Wie träumen wir, was träumen wir? Wie lösen sich die Geschichten auf - wenn sie es denn tun?
Ich selber träume ja kaum mal was (bzw kann mich eben nicht erinnern), und wenn, dann sind es nur kurze Bilder oder Wörter,  aber andere Menschen träumen ja wohl wirklich ganze Geschichten, hab ich gehört.
Wenn Träume die ursprüngliche Art des Geschichtenerzählens ist ... Wie läuft das dann dort ab?
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Re: Alternative Erzählstrukturen
« Antwort #4 am: 11 June 2023, 08:56:54 »
Ich glaube nicht, dass Träume die ursprüngliche Art des Geschichtenerzählens sind. Sondern dass Geschichtenerzählen die ursprüngliche Art von Geschichte ist. Historie. Das heißt, Geschichten haben etwas mit Identität und Herkunft zu tun und vielleicht wäre es dann progressiv, sich auf andere Aspekte davon zu berufen als eben die klassischen, von weißen Männern geschriebenen Geschichten. Das Problem ist, dass ich nicht so viel anderes kenne - also wirklich historisch.
Ich röste zunächst immer, ohne andere Röstungen zur Kenntnis zu nehmen. Dabei ist mein Ansatz der, eine qualifizierte Lesermeinung abzugeben, Euch also zu verraten, wie der Text auf mich wirkt und wie es mir beim Lesen geht und was ich gern anders hätte.

Viskey

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Re: Alternative Erzählstrukturen
« Antwort #5 am: 15 June 2023, 12:22:49 »
OK, wohl missverständlich ausgedrückt. Nicht der Ursprung des Erzählens an sich, da bin ich bei dir, merin. Die Welt ein Stück weit erklären, sich selbst darin verorten und finden ... klar. Aber das hat (noch) nichts mit der Form zu tun. Das ist das Ziel, nicht der Weg.

Der Weg wäre dann eben das "wie erzähle ich"? Irgendwo hat mal wer eine Studie gemacht und festgestellt, dass Träume und Filme ähnliche Stilmittel "anwenden", wie zB Zeitsprünge. - Ob das wirklich haltbar ist, bzw. was da was beeinflusst hat, keine Ahnung, zu lange her. Und natürlich kommt über die x Generationen die Kultur mit ins Spiel. Welche Versatzstücke kennt mein Publikum, welche Klischees, welche Konventionen? Auf die wird dann aufgebaut, womit sie gleichzeitig verfestigt werden.
Und auch da wieder die Frage: erzählen wir, wie wir träumen, oder träumen wir, wie wir erzählen?
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diffusSchall

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Re: Alternative Erzählstrukturen
« Antwort #6 am: 15 June 2023, 15:20:50 »
Um hier einmal einzufädeln: Was bringt euch die Beantwortung der Frage "Was ist wann wie progressiv?" als Autor*innen?
Ist das nicht eher eine Frage für Kritiker und Konsumenten/Leser?
Ich muss gestehen, dass mir persönlich das als Autor eher schnuppe ist. Wenn mir Struktur zu fade ist, dann breche ich sie auf. Wenn sich mir ein bewährtes Konzept als ausgelatschter Pfad darstellt, dann verlasse ich ihn. Ich denke dann nicht darüber nach, ob das progressiv ist oder nicht. Das können gerne andere beurteilen. Ich schreibe so, wie es für mich und die Geschichte am dienlichsten ist. Wenn das am Ende konservativ oder progressiv ist, so what?

Alternative Erzählstrukturen: Samuel R. Delany - Dhalgren
Der Roman ist bewusst so angelegt, dass die Geschichte im Kreis verläuft. Spannungsbögen sind zweitrangig und Erzählebenen beginnen und enden an mehr oder weniger beliebigen Stellen. Man kann irgendwo in dem Wälzer einsteigen und nach der letzte Buchseite mit der ersten "weiterlesen". Ausgefuchst konstruiert und strukturiert.
Progressiv würde ich das trotzdem nicht nennen, denn der Begriff impliziert Fortschritt und den habe ich nicht gesehen. Das Buch ist dadurch nach meinem Empfinden nicht besser geworden. Es gibt keine sich steigernde Dramaturgie und das Buch ist laaang. Es hat sein Faszinosum, aber es ist ne Challenge, das zu lesen. Dynamisch erzählen geht anders.
Progressiv im Sinne von "Die Literaturwelt erweiternd" lasse ich gelten. Meines Wissens ist Delany der erste SF-Autor, der ein Buch so angelegt hat.

Und auch da wieder die Frage: erzählen wir, wie wir träumen, oder träumen wir, wie wir erzählen?

Was war vorher da, das Huhn oder das Ei?    ;)
Ich bin davon überzeugt, dass sich beides bedingt und beeinflusst. Wir plotten und schreiben bewusst unsere Geschichten und gleichzeitig feilt das Unterbewusstsein, und damit unsere Träume, an beidem. Manchmal triggert uns eine Erfahrung, etwas, dass wir sehen und hören, unsere Initialidee, aus der wir die Geschichte entwickelt. Manchmal arbeitet das Unterbewusstsein daran und wir haben einen Geistesblitz und wissen nicht bewusst, wo der eigentlich herkommt. Wer wen final auslöst ist unterschiedlich.

Cheers - Frank
« Letzte Änderung: 15 June 2023, 15:22:56 von diffusSchall »
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Wildfee

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Re: Alternative Erzählstrukturen
« Antwort #7 am: 15 June 2023, 23:33:06 »
Um hier einmal einzufädeln: Was bringt euch die Beantwortung der Frage "Was ist wann wie progressiv?" als Autor*innen?
Ist das nicht eher eine Frage für Kritiker und Konsumenten/Leser?
Jein ;-) Ich war zuerst Leserin, dann Kritikerin und bin jetzt  Autorin. Für mich ist es schon wichtig, zu wissen, was Leser und Kritiker als progressiv ansehen, um eben genau das schreiben zu können.
Zudem kann ich erst dann progressiv schreiben, wenn ich genau weiss, welche Regeln/Strukturen ich dafür brechen/aufbrechen muss, das erschließt sich ja nicht unbedingt auf den ersten Blick und es ist sicherlich auch immer abhängig vom Zeitgeist.
 
Wobei ich gestehe, dass ich bei meinen bisherigen Storys auch keinen Gedanken daran verschwendet habe, inwieweit meine Texte progressiv sind oder nicht. Ich schreibe das, was mir selbst gefällt und habe bisher eben das Glück gehabt, das mein ureigener Geschmack wohl mainstreamig ist.

diffusSchall

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Re: Alternative Erzählstrukturen
« Antwort #8 am: 16 June 2023, 09:00:20 »
Für mich ist es schon wichtig, zu wissen, was Leser und Kritiker als progressiv ansehen, um eben genau das schreiben zu können.
...
Ich schreibe das, was mir selbst gefällt und habe bisher eben das Glück gehabt, das mein ureigener Geschmack wohl mainstreamig ist.

Die beiden Sätze stehen ja im Widerspruch zueinander.
Dann ist das eine Absichtserklärung, in Zukunft progressiv zu schreiben?

Die ganze Fragestellung von mir, gerade auch die von meinem Ursprungspost, rührt eben genau daher, dass ich so schreibe, wie du es in deinem zweiten Satz schilderst: Ich schreibe das, was mir gefällt. Auf eine Art und Weise, wie es sich für mich richtig anfühlt.
Ich werde das auch so beibehalten und nicht bewusst in eine Richtung rudern, nach dem Motto: Ich habe da eine Plotidee. Was muss ich tun, damit daraus progressive SF wird?
Deshalb stehe ich solchen Diskussionen, Ansätzen und Argumenten immer etwas ratlos gegenüber.

Ich schätze mich so ein, dass ich ein SciFi-Autor bin, der im Ursprung konservative Themen bevorzugt und einen konservativen Schreibstil pflegt. Das ist insofern spannend, dass konservativ nun wirklich nicht das Attribut ist, dass Leuten zu mir als erstes einfällt.    ;)
Ich führe meine Selbsteinschätzung auf mein Alter zurück (Baujahr 1968 und mit den großen SF-Klassikern sozialisiert) und bin zu einem nicht geringen Teil aus Eskapismus SF-begeistert. Daher teile ich die zeitgemäße Meinung nicht, dass gute Science Fiction immer progressiv sein muss. in dem Sinne, dass immer eine tragende Zukunftsvision darin stecken muss, die aktuelle Themen aufgreift und Lösungen anbietet, oder zumindest in Gedankenexperimenten Alternativen auslotet.
Aber weil ich mich eigentlich nicht als konservativen Menschen wahrnehmen, habe ich ich eine gewisse Übung darin und Freude dabei, abseits der Wege und über den Tellerrand zu schauen.
Das pflege ich auch beim Schreiben, weil es mich zufrieden stellt.
Aber ich würde mir niemals bewusst Gedanken darüber machen, wie ich meine Texte gestalten muss, um der Erwartung einer Leserschaft nach Progressivität zu entsprechen oder gar deren Innovationsgeilheit zu befriedigen.

LieGrü - Frank
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Wildfee

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Re: Alternative Erzählstrukturen
« Antwort #9 am: 16 June 2023, 11:51:35 »
 :)

Es ist nicht nur eine Absichtserklärung, progressiv zu schreiben, sondern ich habe es automatisch gemacht ;-)

Ich finde es sehr spannend, wie "progressiv" aktuell definiert wird. Ich zitiere mal von Tor Online: "Progressive Phantastik beruht demnach auf einer Haltung, die Traditionen auf allen Ebenen hinterfragt, die obsoleten oder unpassenden fallen lässt, um dann mit den übrigen weiterzuarbeiten. "
Zur Progressivität gehören dem Artikel nach demnach aktuell auch Themen wie z.B. Feminismus, Gendern, Diversität.

Ich finde das auf einer gewissen Ebene amüsant, weil ich in den 80ern und 90ern recht viel Science Fiction und Fantasy gelesen habe, die nach heutigen Stand als progressiv gelten müsste. Ich denke da an Marion Zimmer Bradley, bei der es Männer gab, die Kinder geboren haben (in einer KG von ihr) oder an die ganze Bandbreite der feministischen SF (Suzette Hagen Elgin z.B. mit "Native Tongue" oder "Amerika der Männer")

Ich finde es traurig, dass es dann einen Abschwung gab und man derzeit an einem Punkt angelangt ist, bei dem schon sicher geglaubte Errungenschaften wieder erkämpft werden müssen und es soviel an Widerstand gibt.

Ich sehe progressive Phantastik als Chance zur Vielfalt, ohne Wertung ob irgendeine Richtung/Strömung der Phantastik besser oder schlechter ist :-)


diffusSchall

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Re: Alternative Erzählstrukturen
« Antwort #10 am: 16 June 2023, 12:44:45 »
Hi Wildfee,

ah, ich sehe gerade, dass der von dir benannte TOR-Artikel der von Judith Vogt ist.
Gerade dieser ist wirklich gut, denn er weist ausdrücklich darauf hin, dass sich das "Progressive" eben nicht auf Voke-Themen beschränkt, was dein Zitat impliziert:

Zitat
Zur Progressivität gehören dem Artikel nach demnach aktuell auch Themen wie z.B. Feminismus, Gendern, Diversität.

Leider sehe ich immer wieder, dass der Begriff "Progressive Phantastik" genau auf diese Thematiken reduziert wird und das ist in meinen Augen ein großer Fehler.
Ich stelle daher deinem Zitat einmal zwei weitere aus dem gleichen Artikel zur Seite, um deutlich zu machen, was ich meine:

Zitat
Das Progressive beschränkt sich aber nicht nur auf die Inhalte, sondern bezieht sich in Anlehnung an Progressive Rock und Progressive Metal in der Musik auch auf die Form. Statt unreflektierten Gewohnheiten oder präskriptiven Ratgebern zu folgen, sucht die Progressive Phantastik nach Formen, die den jeweiligen Stoff am besten zur Geltung bringen.

Zitat
... nehmt gewohnte Elemente und verwendet, was ihr brauchen könnt. Brecht die Klischees, fügt Neues hinzu, aktualisiert überkommene Motive – oder findet welche, die euch aktuell oder ewig vorkommen. Nehmt aber auch Neues aus der Gegenwart, bildet sie ab. Progressivität fährt auf den beiden Gleisen von Altem und Neuem und lebt von ungeahnten Kombinationen. Unsere Ängste und Hoffnungen, unsere Träume, Ziele und Ideale können sich zu den alten Motiven dazugesellen und eine neue Form von Tradition bilden, die mit Sicherheit irgendwann auch wieder in Frage gestellt werden kann – und muss!

Progressiv immer generell und nicht spezifisch.

Ich frage mich aber auch, wer entscheidet, was progressiv ist?
Nach meinem Dafürhalten ist der Autor der Letzte, der das entscheidet, weil er am wenigsten objektiv ist. Er kann allenfalls die Absicht verfolgen. Ob er wirklich innovativ und progressiv ist, dass ist wohl eher eine Frage der allgemeinen Wahrnehmung. Wie eingangs schon von mir formuliert: eine Frage für Kritiker und Konsumenten/Leser.


Beste Grüße - Frank
« Letzte Änderung: 16 June 2023, 13:25:32 von diffusSchall »
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merin

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Re: Alternative Erzählstrukturen
« Antwort #11 am: 17 June 2023, 12:28:35 »
Ich sehe mich ja auch als Teil der progressive-SF-Szene und für mich ist das ein ganz wichtiges Ding. Einfach weil ich gesellschaftskritisch sein will. Ich möchte nicht in meinen Texten gängige -ismen reproduzieren und damit mir das nicht passiert, muss ich reflektieren. Genau darum gehe ich soweit zu behaupten, dass das doch auf jeden Fall eine Frage für Autor*innen ist - zumindest wenn sie progressiv sein wollen. Wenn ihnen das egal ist, dann ist das natürlich eine legitime Haltung, aber ich glaube eher nicht, dass man versehentlich progressiv sein kann.  ;)

Allerdings glaube ich auch nicht, dass die Art des Erzählens dafür so zentral ist. Ich halte die Inhalte für mindestens ebenso wichtig wie die Form und wenn sowohl Form als auch Inhalt vom Gewohnten zu sehr abweichen, fürchte ich, dass der Text sperrig wird. Aber das ist vielleicht auch eine Geschmackssache.

Erstaunt bin ich über euren Austausch zur Frage des Erzählens und des Träumens. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass wir träumen, wie wir erzählen oder erzählen, wie wir träumen. Einfach weil das für mich ganz unterschiedliche Arten des Erzählens sind. Ich würde sogar soweit gehen zu sagen, dass traumhaftes Erzählen nur in ganz wenigen Ausnahmen funktioniert, einfach weil Traumlogiken so fremd, so verworren, so unzugänglich sind. Erlebt ihr das anders? Wo seht ihr die Gemeinsamkeiten zwischen Traum und Erzählung?

Im Urlaub haben wir ein Buch mit SF-DDR-Geschichten von 1981 aus dem Bücherschrank eines Campingplatzes gezogen. Ich habe die erste Geschichte bereits gelesen und es stimmt: Sie ist progressiv und sowohl von vielschichtig. Ich bin ehrlich begeistert! Dass es zwischendrin so einen Backlash gibt und so eine große Auswahl an konservativer und gar rechter SF, finde ich auch schwer auszuhalten.
Ich röste zunächst immer, ohne andere Röstungen zur Kenntnis zu nehmen. Dabei ist mein Ansatz der, eine qualifizierte Lesermeinung abzugeben, Euch also zu verraten, wie der Text auf mich wirkt und wie es mir beim Lesen geht und was ich gern anders hätte.

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Re: Alternative Erzählstrukturen
« Antwort #12 am: 17 June 2023, 13:04:57 »
Genau darum gehe ich soweit zu behaupten, dass das doch auf jeden Fall eine Frage für Autor*innen ist - zumindest wenn sie progressiv sein wollen.

Ist das so? Ist dein zentraler Gedanke progessive Texte zu schreiben? Oder ist dein zentraler Gedanke gesellschaftskritisch zu schrieben? Was ist die Folge von wem?
Wenn dir jemand sagt, deine Themen und deine Art zu Schreiben ist nicht progressiv, aber gesellschaftskritisch. Fühlt sich das besser für dich an, als wenn es umgekehrt wäre?

Erzählen und Träume:
Wir erzählen ja Geschichten aus unserer Vorstellung heraus. Und viele unserer Bilder und Motive haben ihre Wurzeln im Unbewussten. Wie oft fragen wir uns als Autoren, wo das alles herkommt, was wir da zu Papier bringen? Zumindest mir geht es oft so, dass ich mich da selbst überrasche.
Das Unterbewusstsein ist ein ganz großer Teil unserers inneren Erzählers. Und wenn wir Träumen macht genau dieses Unterbewusstsein Überstunden. Ich sehe da eine klar, direkte Verbindung.

Cheers - Frank
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Re: Alternative Erzählstrukturen
« Antwort #13 am: 17 June 2023, 13:11:58 »
Du findest konservative SF schwer auszuhalten? Wow. Da wundert mich die ablehnende Haltung doch sehr. Dabei ist althergebrachte, traditionelle und nur unterhaltende SF so leicht zu ignorieren, wie ich finde. Doch zumindest zu tolerieren.
Ich halte daran gerne fest, weil ich das Klassische, dass heute oft schon als Retro-SF bezeichnet wird, liebgewonnen habe. Ich bin damit gross geworden.
« Letzte Änderung: 17 June 2023, 13:20:44 von diffusSchall »
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Re: Alternative Erzählstrukturen
« Antwort #14 am: 17 June 2023, 14:33:02 »
Frank, du drehst mir die Worte im Munde um und das an so vielen Stellen. Was ist los?

Zitat
Ist das so? Ist dein zentraler Gedanke progessive Texte zu schreiben? Oder ist dein zentraler Gedanke gesellschaftskritisch zu schrieben? Was ist die Folge von wem?
Wenn dir jemand sagt, deine Themen und deine Art zu Schreiben ist nicht progressiv, aber gesellschaftskritisch. Fühlt sich das besser für dich an, als wenn es umgekehrt wäre?

Ich habe doch nirgendwo behauptet, dass das mein zentraler Gedanke sei. Oder mein zentrales Anliegen (ich nehme an, das war es, was du meinst?). Ansonsten würde ich sagen: Gesellschaftskritik funktioniert in progressive und in traditionalistische oder gar reaktionäre Richtung. Neonazis sind auch gesellschaftskritisch. Aber das ist gar nicht die Richtung, die mir vorschwebt. Insofern: ja bitte, gesellschaftskritisch und progressiv. Natürlich gibt es aber Leute, die meine Texte ganz anders lesen und das ist natürlich auch legitim.

Deine Gedanken zu Erzählen und Träumen leuchten mir ein: an beidem ist das Unbewusste beteiligt. Allerdings habe ich es so verstanden, dass wir hier über Erzählstrukturen sprechen. Und rein strukturell finde ich beide Arten des Erzählens doch sehr verschieden. Oder ich stehe einfach nur auf dem Schlauch und sehe die Ähnlichkeiten nicht. Oder wir haben aneinander vorbeigeredet, weil du den Inhalt meintest und ich die Struktur. Wobei: Wenn es um die Hypothese geht, dass die Struktur unserer Texte zu einem großen Teil ebenso unbewusst entsteht, wie die Struktur von Träumen, dann kann ich da sogar mitgehen. Interessanter Gedanke ... nur in der Überarbeitung wird im besten Falle dann einiges bewusst. Oder nicht? Die interessante Frage ist, inwiefern wir überhaupt Verfügungsgewalt über die Struktur unserer Texte haben.

Zitat
Du findest konservative SF schwer auszuhalten?

Du-u, Fra-ank ... das habe ich weder gemeint noch geschrieben. Ich schrieb, dass ich den Backlash schwer auszuhalten finde. Das ist schon ein sehr wesentlicher Unterschied.

Ansonsten müssten wir mal schauen, was für Retro-SF du meinst. Ursula K Le Guin? James Tiptree Jr? Douglas Adams? Stanislaw Lem? Alles alt und alles von mir sehr geschätzt, zumindest zum Teil. Aber retro meint eigentlich, dass es jetzt geschrieben wurde, sich aber beim Damals bedient. Und da verstehe ich gar nicht, auf wen du dich beziehst. Und was das mit der Erzählstruktur zu tun hat.  :dontknow: Magst du mich aufklären?
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