Hallo Teufel,
hier ein Text aus meinem aktuellen Fantasy-Projekt. Fragen dazu folgen am Schluss.
Jemand klopfte.
Camor hatte gerade erst angefangen, die Haare der Wassergöttin Uillianis herauszumeißeln. Missmutig legte er das Spitzeisen weg. Das war wohl dieser angebliche Magier, der seinen Vater beschwatzt hatte, ihn in militärischer Strategie zu unterrichten.
"Herein", knurrte Camor.
Die Tür ging auf. Der Mann, der nun auf ihn zumarschierte, sah ganz und gar nicht so aus, wie Camor sich einen Zauberer vorgestellt hatte, egal ob echt oder ein Scharlatan. Er war von bulliger Statur und mittleren Alters. Seine Augen blickten scharf und hell.
Camor nickte grüßend – hoheitsvoll, hoffte er. Er musste von Anfang an klarstellen, wer hier das Sagen hatte.
„Die Vier mit dir. Ich bin Averlan", sagte der Besucher mit tiefer Stimme. "Und du bist also der jüngere Prinz." Er musterte Camor von Kopf bis Fuß.
Ärger stieg in ihm hoch. „Ich habe kein Interesse daran zu lernen, wie man am besten möglichst viele sogenannte Feinde umbringt.“
„Ich will dich nicht zum Heerführer ausbilden“, erwiderte Averlan. „Sondern dir bei dem helfen, was du selbst willst. Was ist dein tiefster Wunsch?"
Diese Frage hatte Camor noch nie jemand gestellt. Er brachte keinen Ton heraus.
Averlans Blick glitt über die Gestalt der halb fertigen Göttin. Dann sagte er langsam: "Ich sehe es. Du suchst Schönheit."
Das traf Camor ins Herz.
Averlan schaute ihn ernst an. "Dann muss dir auch daran liegen, Schönes zu bewahren."
Also daher wehte der Wind! Er brauchte nicht hinzuzufügen, dass Kriege das Schöne zerstörten. "Netter Trick, mir die militärischen Künste schmackhaft zu machen."
Averlan schwieg.
Der Kerl war nicht dumm. Vielleicht wollte er über Camor Einfluss auf die Politik nehmen. Oder es ging ihm nur ums Geld, er unterrichtete einen Prinzen sicher nicht umsonst. Unverschämt, ihm deshalb seine Zeit zu stehlen! Der Ärger brach jäh aus Camor heraus. "Wie hast du es geschafft, dass mein Vater dich als meinen Lehrer eingestellt hat? Mit dieser Geschichte, dass du ein Magier aus dem sagenhaften Morna bist? Ich glaube kein Wort davon!"
Averlan sagte nichts und wies in Richtung der Statue. Camors Blick folgte seinem ausgestreckten Zeigefinger.
Ihm stockte der Atem. Die Göttin hob die Mundwinkel zu einem Lächeln.
Camors Beine wurden weich, er lehnte sich an den Tisch mit den Werkzeugen und dem Wasserbecher, der immer bereitstand, weil die Steinmetzarbeit ihn oft durstig machte. Dann fasste er sich. "Ich habe von dergleichen gehört. Es ist eindrucksvoll, aber nicht wirklich. Du bist also ein Meister der Illusionen."
"Fast alle Menschen leben in einer Welt der Illusionen. Ich habe eine neue hinzugefügt, das ist richtig. Aber ich kann auch Dinge tun, die du als wirklich bezeichnen würdest."
Der Becher hüpfte vom Tisch und übergoss Camors Füße mit einem kühlen Schwall. Camor blickte verwirrt auf seine Sandalen. Sie waren dunkel vor Nässe.
Mit zitternder Stimme sagte er: "Nun gut, du bist also ein echter Magier. Warum willst du mein Lehrer sein?“
"Setzen wir uns doch gemütlich irgendwo hin", erwiderte Averlan. "Es gibt einiges zu bereden."
Camor führte ihn in den Raum, den er zum Lesen und Ausruhen benutzte. Drei Wände wurden von Bücherregalen eingenommen, die vierte von zwei Fenstern mit Rundbögen, die durch eine Säule voneinander getrennt waren. Sie war mit Ornamenten aus ineinander verschlungenen Pflanzen und Tieren überzogen, einer Steinmetzarbeit, die Camor letztes Jahr hergestellt hatte, die erste, mit der er trotz einiger Schwächen einigermaßen zufrieden war.
Die Einrichtung des Zimmers war einfach, aber bequem: Eine Liege in einer Ecke und drei Scherenstühle um einen runden Tisch, auf dem eine Karaffe mit Wein und mehrere Becher bereitstanden. Camor hatte nicht oft Besuch, aber manchmal genoss er es, ein paar Poeten, Musiker oder Bildhauer zu empfangen und mit ihnen zu diskutieren.
Er setzte sich, Averlan ließ sich ihm gegenüber nieder. "Die Priester der Erdgöttin haben mir von dir erzählt", sagte er. "Sie sagten, du hättest in deiner Kindheit öfter Menschen in der Gestalt von Tieren gesehen. Sind diese Visionen jetzt verschwunden?"
Camor zögerte. Er kannte Averlan kaum, und er hatte seit mindestens zehn Jahren nicht mehr darüber gesprochen. Andererseits mochte ein Magier einiges darüber wissen. "Nein, sind sie nicht. Manchmal sehe ich zum Beispiel meine Mutter als Pfau. Und meinen Vater als Eber. Weißt du, was es damit auf sich hat?"
"Du hast sicher viel darüber nachgedacht. Zu welchen Schlüssen bist du bisher gekommen?"
Camor lehnte sich in seinem Stuhl zurück und überlegte, wie er es formulieren sollte. "Die Tiere scheinen irgendwie zu passen. Wenn man meine Mutter mit ihrem Getrippel und bunt schillernden Gewändern zwischen ihren Hofdamen sieht, erinnert sie an einen Pfau. Man sagt ja auch `eitel wie ein Pfau´, und das ist sie. Und mein Vater hat etwas von einem Eber, er hat eine gewisse plumpe Kraft, ist listig und reizbar."
Averlan nickte. "Die Magier nennen es das innere Tier. Aber was genau siehst du? Hat dein königlicher Vater als Eber zum Beispiel eine Krone auf dem Kopf?"
Camor grinste. "Nein! Kurz bevor dieses innere Tier, wie du es nennst, erscheint, sehe ich die Umgebung des entsprechenden Menschen nur verschwommen, alles flimmert, und dann erblicke ich dort ein Tier. Und zwar in seiner natürlichen Größe und Gestalt, ohne Kleidung oder dergleichen. Einmal habe ich meinen königlichen Vater nackt und borstig auf seinem Thron sitzen sehen."
Averlan lachte auf.
"Das Tier nimmt normalerweise eine ähnliche Haltung ein wie der Mensch in diesem Moment", fuhr Camor fort, "aber das funktioniert manchmal nicht. Ich erinnere mich an eine Freundin meiner Mutter, die mit gekreuzten Armen auf ihrem Stuhl saß. Plötzlich hockte dort ein Rotkehlchen."
"Die Arme zu kreuzen liegt eben nicht in der Natur eines Vogels", erwiderte Averlan. "Für einen Regenwurm wäre es noch schwieriger."
Camor prustete los, und Averlan brach in Gelächter aus. Es dauerte eine Weile, bis sie wieder normal sprechen konnten.
Camor erzählte von Menschen, die ihm als Aal, Kröte oder Meerschweinchen erschienen waren. "Es geschieht nicht oft", fügte er hinzu. "Alle paar Wochen. Hat eigentlich jeder ein inneres Tier?"
"Ja."
"Und wie sieht meins aus?"
"Ich weiß es nicht. Du verbirgst es gut."
1). Welchen Eindruck habt ihr von Camors Persönlichkeit? (es ist sein 2. Auftritt im Buch, im 1. kommt er nur kurz aus der Sicht seines Bruders vor)
2). Ist euch klar, was das innere Tier ist?
3). Findet Ihr die Idee des inneren Tiers spannend? (ich schon, aber ich hätte dazu gerne Meinungen von außen)
Sonstige Anmerkungen sind mir natürlich willkommen.
Gut Röst!