Eine meiner letzten Lektüren war "Identitti" von Mithu Sanyal.
Das Buch passt ein bisschen zu den Diskussionen, die es hier so im Forum gibt, auch wen es nicht primär um Gender, sondern vor allem um ethnische Zuschreibungen geht.
Das Buch hat sehr viel Spaß gemacht und liest sich sehr schnell. Und das obwohl es viele politische Theorien streift. Es ist allerdings eher nicht für Menschen geeignet, die sich an englischen Textanteilen oder aus Subkulturen stammenden Begriffen stören.
Die Protagonistin Nivedita lebt im Ruhrgebiet. Ihr Vater kommt aus Indien. Die Mutter ist eine aus Polen stammende Deutsche. Nivedita fühlt sich weder als "Weiße" noch als "richtige Inderin". Ihr fehlt ein Gefühl der Zugehörigkeit. Auch das Label PoC (People of Color) wird ihr abwechselnd übergestülpt und aberkannt.
Ihre in London aufgewachsene Cousine Priti hat einen indischen Vater und eine indische Mutter. Deshalb ist diese nicht nur Niveditas engste Vertraute, sondern auch eine Art „Echtheitszertifikat“.
Wichtige Fragen klärt Nivedita aber mit der Göttin Kali, die – wie könnte es anders sein – immer wieder provokant Niveditas Alltag kommentiert.
Als sie bei der berühmten Saraswati beginnt Postkonials Studies zu studieren eröffnet sich ihr eine neue Welt. Das liegt nicht nur daran, dass Saraswati Inderin ist. Sie gibt den Studierenden of Color auch das Gefühl der Ermächtigung, indem sie alle Studierenden, die sich nicht als PoC verstehen, bittet, die Vorlesung zu verlassen. Bei Saraswati lernt Nivedita sich und ihre ethnische Identität selbst zu definieren. Sie entwickelt ein neues Selbstbewusstsein und bloggt unter dem Namen Identitti über Brüste, Rassismus und ihre Gespräche mit Kali.
Als bekannt wird, dass Saraswati gar keine Inderin ist, sondern als Sara Vera T. in einer deutschen Familie aufgewachsen ist und sich mit OPs und anderen Maßnahmen zur Inderin gemacht hat, rollt eine Welle der Entrüstung durch die digitale Welt. In den Tweets ist wird Saraswati Blackfacing, Cultural Appropriation und Rassismus vorgeworfen. Auch viele Komiliton*innen Niveditas beteiligen sich am Shitstorm und brechen auch mit Nivedita, da diese kurz vor dem Skandal ein Radiointerview gegeben hat, in dem sie sich positiv auf Saraswati bezieht. Doch schlimmer ist für Nivedita der Zusammenbruch ihres neuen Selbst- und Weltbildes.
Obwohl ein großer Teil der Handlung in Saraswatis Wohnung stattfindet, entsteht beim Lesen ein großer Sog. Wie die Autorin es geschafft hat, diese Nicht-Handlung zur Handlung werden zu lassen, fand ich faszinierend. Die Konflikte zwischen den Figuren machen fühlbar, wie eng Hass und Liebe manchmal beieinander liegen können. Erstaunlich dabei ist, wie offen die Personen teilweise miteinander reden und wie viel ungesagtes dennoch zwischen ihnen steht.
Indem die Mithu Sanyal tatsächliche Zitate bekannter Personen eingebaut hat, hat sie die Debatten in der reellen Welt verankert. Mithu Sanyal hat Blogger*innen um „Spenden“ der Tweets gebeten, die diese schreiben würden, wäre der Skandal um Saraswati Realität. Die Debatte entfaltet sich also vor dem Hintergrund tatsächlich existierender Orte, zivilgesellschaftlicher Organisationen und politischer Theorien. Diese Verhaftung in der Realität wird durch Niveditas Gespräche mit Kali gebrochen.