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VL2: J.K. Rowling; Harry Potter Bd.1 - Kapitel 1

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Oldlady:
Merins Ausführungen zum ersten Kapitel finde ich fast alle sehr treffend.

Der erste Satz


--- Zitat ---Mr. und Mrs. Dursley im Ligusterweg Nummer 4 waren stolz darauf, ganz und gar normal zu sein
--- Ende Zitat ---

ist großartig und weckt die Erwartung auf eine nicht alltägliche Geschichte,
und dann folgt ein Hook nach dem anderen, ja die Hooks treten so geballt auf, dass es zu viel werden könnte, wenn nicht immer wieder mal eine Erklärung oder Ergänzung dazwischengeschoben wäre. Wunderbar auch der Humor, etwa  mit den beiden Hälsen... Außerdem wächst die Neugier auf die Familie Potter und vor allem Harry. Dass er etwas ganz Besonderes ist und schon als Baby berühmt, weckt vor allem bei jungen Lesern die Lust, sich mit ihm zu identifizieren.
Auf wenigen Seiten passiert ganz schön viel: Merkwürdiges wie die Katze, die eine Professorin ist, Dumbledore, der Lampen mit dem Zauberstab ausknipst, es ist von Sternschnuppenschauern und Eulenschwärmen die Rede, ein böser Typ mit Namen „Du weißt schon wer“ wird genannt und eine Feier, weil er verschwunden ist. Das Baby Harry, für das nun Interesse geweckt ist, wird auf der Schwelle der spießigen Dursleys abgelegt. Man nimmt Partei für das kleine Waisenkind, und man sieht Konflikte mit seinen Ersatzeltern und Dudley kommen.   Und sogar dass Voldemort wohl nicht für immer verschwunden ist.
Gleichzeitig bringt Rowling noch eine erste Charakterisierung mehrerer Hauptfiguren zustande.
Bei meinem Buch stehen dafür nicht mal 20 Seiten zur Verfügung. Dieser Start ist unglaublich dicht.
Da kann keine Langeweile aufkommen.
Man vergleiche einmal dieses Feuerwerk an Einfällen und Ereignissen und Hooks mit einem „normalen“ Jugendbuch, in dem es zum Beispiel um Drachen oder doofe Lehrer geht und wo die Befindlichkeiten und Ereignisse breitgewalzt werden.
Was mir noch aufgefallen ist: Rowlings Sprache ist sehr bildhaft. (beispiel: der alte Mann umarmte Dursley ungefähr in Bauchhöhe). Und die Sätze sind nie allzu lang.

In ein paar Kleinigkeiten bin ich anderer Ansicht als Merin.

Die Dursleys sind Spießer, für die ich keine Sympathie aufbringen kann. Und sie sind als Typen überzogen, was aber in dieser Art von Roman, wo auch das Komische seinen Platz hat, durchaus okay ist.

Zitat Merin:


--- Zitat ---während Dumbledore da sanfter wirkt – und auch kindlich: Er bietet ihr ein Brausebonbon an, an einer für mich ganz unpassenden Stelle des Gesprächs. Und McGonagalls Reaktion wird so beschrieben, dass ihre normale Reaktion („Ein was?“) komisch wirkt – nicht sein Angebot.
--- Ende Zitat ---

Ich finde das Brausebonbon passt wunderbar, um Dumbledore zu charakterisieren: er  weiß, dass Brausebonbons sinnliche Dinge sind, die im Leben zählen. Also ist er ein „kindlicher Weiser“, so wie ich mir einen Zen-Mönch vorstelle. Während Gonagall, die steife und etwas verkopfte Professorin, damit nichts anfangen kann.

Außerdem kann ich Merins Kritikpunkt, dass manches im Text nicht ins 20. Jahrhundert passt (Milch wird morgens gebracht, Baby in Leintücher gewickelt) , nicht nachvollziehen. Für mich ist offensichtlich, dass es sich um ein etwas gestriges England handelt.

Freu mich schon aufs nächste Kapitel!

Oldlady

Trippelschritt:
Ich habe nicht mehr viel hinzuzufügen, da die Beiträge zwar unterschiedliche Schwerpunkte setzen, aber sich doch kaum widersprechen.
Ich hätte nur, wie Old Lady es getan hat, noch auf die ungeheure Dichte der Einfälle hinweisen müssen. Das ist nicht nur exzeptionell, das verursacht auch den gewünschten Sog, dass man unbedingt Kapitel 2 lesen muss.

Und jedem ist klar, dass es mindestens zwei große Konflikte gibt. Einmal prallen zwei Welten aufeinander, und einmal gibt es ein Geheimnis um Harry Potter. Protakonflikt und Weltkonflikt. Mehr geht wirklich nicht.

Liebe Grüße
Trippelschritt
(kann wieder im Sitzen schreiben)

Mooncat:
So, habe eben auch endlich das erste Kapitel beendet - und nehme mich zusammen, nicht weiterzulesen. Es stimmt schon, sie schafft es wunderbar, den Leser direkt in die Geschichte reinzuziehen. Und das mir, die eigentlich gar nicht gern Geschichten liest, wo der Prota männlich ist!

Den Perspektivwechsel finde ich auch spannend, vom alleswissenden Erzähler, der schon vorausschickt, was für ein aussergewöhnlicher Tag das wird und uns die Dursleys schon mal vorstellt, hin zu Dursleys Tag, wo wir ziemlich genau seine Gedanken schon erfahren und all die merkwürdigen Sachen, die er sieht und was er dabei denkt, zurück zum Erzähler, der dann die ganze Begegnung von Dumbledore, McGonagall und Hagrid wieder relativ objektiv wiedergibt, ohne uns einen Einblick in ihre Gedanken oder Gefühle zu geben. Oder nur wenige. Aber es charakterisiert Dursley Sr. wunderbar. Vor allem witzig finde ich ja, wie er sich über all die seltsam angezogenen Leute in ihren Cloaks aufregt:
--- Zitat ---why, that man had to be oder than he was and wearing an emerald-green cloak! The nerve of him!
--- Ende Zitat ---
:devgrin: Sagt das nicht eigentlich alles, was wir von ihm wissen müssen?
Gefolgt davon:

--- Zitat ---Mr Dursley, however, had a perfectly normal, owl-free morning. He yelled at five different people. He made several important telephone calls and shouted a bit more.
--- Ende Zitat ---
Der erste Satz ist, glaube ich, mein Lieblingssatz im Kapitel, einfach weil er so einfach und schlicht Alltag und Seltsames kombiniert und so herrlich ironisch dabei ist. Mit dem folgenden Satz wird weiter gezeigt, was für ein Mensch Dursley ist, einer, der sich selbst zu wichtig nimmt und Freude daran hat, ein unangenehmer Typ zu sein.

Sehr interessant fand ich Hagrids Kommentar zum Motorrad, das wusste ich gar nicht mehr:

--- Zitat ---"Where did you get that motorbike?" ... "Young Sirius Black lent it me."
--- Ende Zitat ---
Aha! Also wird Sirius hier schon erwähnt - und eigentlich gleich klar gestellt, dass er einer der guten ist. Höchst interessant. Gut, zwei Bücher später, wer erinnert sich da noch daran - aber es ist ein wunderbares Beispiel dafür, wie voraussehend JKR hier (noch?) geschrieben hat, um hier schon ein Seed für das übernächste Buch zu säen. Da kann ich nur den Hut davor ziehen.

Was mich gar nicht dünkt ist, dass Dumbledore kindlich rüber kommt. Höchstens etwas schrullig. Aber insgesamt wirkt er wie ein sehr erwachsener Mann, einer der zu viel weiss, als ihm gut tut, im Grunde sehr ernst und umsichtig ist und vor allem auch nachdenklich. Aber ja, auch einer der einen Spass daran hat, andere zu verwirren - vor allem wenn er einer direkten Antwort aus dem Weg gehen will.

Im Englischen ist Harry übrigens lediglich in ein 'blanket' gewickelt, ich glaube, da haben die Übersetzer noch etwas mehr das von Dir erwähnte Mosesbild (un?)absichtlich verstärkt. Sicher, das bedeutungsvolle, ausgesetzte Bild kann schon aufkommen, aber Babies sind ständig in Blankets gewickelt, so besonders ist das nicht. Ein Leinentuch hingegen transportiert da schon ein anderes Bild - und erinnert eher an eine Aussetzung. Was es hier klar nicht ist,nicht mit der Vorsicht, mit der Dumbledore ihn vor die Tür legt, nicht mit dem Brief, der beigelegt ist und nicht mit den Abschiedsworten von Dumbledore.
Und ja, wieder mit Blick auf die Folgebücher, so ist es ja auch der einzige Ort, wo er vor Voldemort und seinen Anhängern verborgen bleibt. Also kommt er zu den Dursleys, um ihn zu schützen. Aber zugegeben, das wissen wir zu dem Zeitpunkt noch nicht.

Andere Frage: mir ist aufgefallen, dass Voldemort 11 Jahre lang gewütet hat. Zufall? Immerhin scheint elf Jahre eine wichtige Zeitspanne zu sein, oder besser gesagt Alter, wenn die Zauberer erst mit elf ihre Ausbildung beginnen können. Hmm. Was machen die Kinder eigentlich vorher? Das Schulalter ist doch sicher auch in England viel früher. Alle homeschooled? Oder gibt es Vorschulen für Zauberer? Nur ein Gedanke ... Der weit vorgreift. Also schweig ich schon. Trotzdem, mich interessieren diese elf Jahre des Terrors.

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