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VL1: Das Glasperlenspiel - Kapitel 1 Berufung
felis:
Die Konstruktion der Geschichte als fiktive Biographie bringt es mit sich, dass aus der Pespektive des Biographen also eines allwissenden Erzählers berichtet wird.
Die Erzählung selbst entspricht hier dem Grundplot der klassischen „Heldenreise“ und Kennern des äußerst empfehlenswerten Schreibratgebers „Die Odyssee des Drehbuchschreibers“ wird auch das typische dazugehörige Personal sofort ins Auge springen. ;)
Da begegnet uns doch gleich im ersten Kapitel der „Mentor“ in Gestalt des Musikmeisters. (Der erste ernstzunehmende „Schellenhüter“ taucht leider erst im nächsten Kapitel auf).
Wie es sich für einen 1. Akt einer Heldenreise gehört, taucht Josef – unser Held - zunächst in der „gewohnten Welt“ der Regelschule auf und erhält dann den Ruf des Abenteuers, nämlich die Berufung an die Eliteschule, hier in der Form, dass es der Mentor ist, der ihm den Schubs zur Tür hinaus verpasst.
So weit, so klassisch. (Ich glaube, es könnte sich lohnen, die ganze Geschichte mal auf die Struktur der Heldenreise abzuklopfen. :devgrin:)
Obwohl aufgrund des Vorworts längst bekannt ist, dass Josef natürlich Karriere im System macht, dieses Spannungselement also komplett wegfällt, schafft Hesse es trotzdem, mich für seinen Helden - oder vielleicht eher für sein Thema? - zu interessieren. Josefs Begeisterungsfähigkeit macht ihn für mich trotz leichter Gary-Stu-Haftigkeit zu einem Sympathieträger.
Hesse gelingt das Kunststück, mich sozusagen mit Josef zusammen in die Welt des Glasperlenspiels einzuführen. Das namensgebende Spiel hat hier (naturgemäß – wir erinnern uns – zunächst ist der Held in seiner gewohnten Umgebung einzuführen) noch keine Bedeutung.
Morwen:
Hallo felis,
--- Zitat von: felis am 20 January 2014, 18:33:32 --- Kennern des äußerst empfehlenswerten Schreibratgebers „Die Odyssee des Drehbuchschreibers“
--- Ende Zitat ---
Kannst du - vielleicht in einem anderen, passenderen Thread - ein bisschen mehr dazu schreiben? Die Suche im Federfeuer habe ich schon bemüht, aber die Infos sind dort auch eher kurz. Mich würde z.B. interessieren, ob du es auch jemandem uneingeschränkt empfehlen würdest, der sicher keine Drehbücher schreiben will.
--- Zitat --- Ich glaube, es könnte sich lohnen, die ganze Geschichte mal auf die Struktur der Heldenreise abzuklopfen. :devgrin:)
--- Ende Zitat ---
Ja, bitte!
--- Zitat ---Josefs Begeisterungsfähigkeit macht ihn für mich trotz leichter Gary-Stu-Haftigkeit zu einem Sympathieträger.
--- Ende Zitat ---
Mich hat Gary Stu auch deshalb weniger gestört als in anderen Romanen, weil die Einleitung eine Art Rahmen bildet und der Erzähler - nach meinem Eindruck - durchgängig im Text auffällig präsent ist. Da berichtet jemand, den ich als Mitglied eines "Ordens" wahrnehme (ob er das in der Einleitung explizit sagt, weiß ich nicht, aber bei mir entsteht der Eindruck) über eine Person, die für die Geschichte dieses Ordens außerordentlich wichtig war. Da erwarte ich keine Objektivität und kann einen gewissen Teil der Gary-Stu-Aspekte dem Enthusiasmus des Erzählers zuschreiben.
Parzifal:
Hallo, werte Hesse-Gemeinde!
Ich finde den Teil in diesem Kapitel so anrührig, als der Musikmeister (Magister Musicae) in das Städchen Berolfingen kommt, um den Musikschüler Josef Knecht in Augenschein zu nehmen. Knecht denkt ja erst, es müsse ein Riesen-Trara geben bei dessen Ankunft; die Stadt sei dann beflaggt und geschmückt, wie er es schon bei anderen Gelegenheiten erlebt hatte. Aber nein, nichts dergleichen geschah. Alles war am Tag der Ankunft wie immer, der Lehrer trug nicht einmal einen besseren Rock. Und dann wurde Knecht gerufen und ein alter Mann stand vor ihm, der ihn ernst, zugleich aber auch heiter anblickte. Und er fragte ihn nicht nach Fingerübungen oder dergleichen, wie es ein gewöhnlicher Pauker getan hätte. Nein, er sagte: "Josef, lass uns zusammen etwas spielen."
Und der Meister stimmte ein Lied an, dass Knecht gut kannte und wohl schon oft zur eigenen Verlustierung oder mit anderen gespielt hatte. So wurde das Geprüftwerden und die in Augenscheinnahme eine vergnügliche Sache, die für beide viel Spaß brachte und nur ganz nebenbei eine Prüfung war.
Als Josef Knecht später durch das Städtchen lief, war alles feierlich gestimmt, beflaggt und geschmückt - nicht außen, in seinem Innern. Und er verstand, dass der Musikmeister mehr war, als ein großer Musiker, der ihn auf diese wohlgefällige Art begutachtet hatte. Er war der Bote, der ihn seine Berufung ahnen ließ.
LG, Parzifal
Viskey:
Nachdem ich nun das 1. Kapitel gelesen habe ... bin ich so ratlos wie zuvor. :dontknow:
Ich bin mir nicht sicher, wer hier wem was vormacht.
Macht der Magister Musicae Josef Knecht was vor (oder schlimmer: sich selbst), wenn er über die Unfreiheit der freien Berufe redet. - Ist, sich der Lateinischen Aussprache im 12. Jahrhundert zu beschäftigen, wirklich Freiheit? Oder ist das nicht einfach nur ... ein Zeittotschlagen, weil man halt sonst nix mit seiner Zeit anzufangen weiß. (Oder sind das nur die, die allen Talenten zum Trotz, schlicht unbrauchbar sind?) Und wo ist die Freiheit, wenn man sich "immer an den Ort stellen und zu der Funktion bestimmen [lässt], welche die Oberen [...] wählen"? - Gut, der MM relativiert das gleich wieder, indem er sagt, dass die Oberen da wiederum nur auf die vorhandenen Talente reagieren. (Das würde irgendwie die Theorie mit den unbrauchbaren Zeitverschwendern stützen.)
Und wieso kann einer nicht volle Freiheit genießen, der von Kindesbeinen an nichts anderes wollte, als Klempner werden? Gut, auch das hat Hesse nicht allgemein für alle Nicht-Electi behauptet.
Trotzdem dieser ganze Teil scheint mir irgendwie faul ... Vor allem, weil das Kapitel ja mit den Worten des Meisters endet: "[...] wer höher steigt und größere Aufgaben bekommt, wird nicht freier, er wird nur immer verantwortlicher."
Da hat er mich schön im Regen stehen lassen, der gute Hesse. - Was zum Ge*er ist denn nun eigentlich Freiheit?!
:nudelholz:
Die Frage hätte er auch beantworten können, der gute Hermann, nicht nur so umfangreich in den Raum stellen... :devgrin:
Andererseits, nachdem mir der Josef am Anfang des Kapitels (als Kind) kaum nahe kam, und er auch irgendwie noch farblos blieb - er war halt der Aufhänger, um noch etwas mehr Welten- und Gesellschaftsbastelei zu betreiben - wurde ich mit Josef dem Teenager dann doch recht schnell recht warm. Er ist so richtig schön auf Sinnsuche, verzweifelt an sich und der Welt, weiß nicht, wohin zuerst und hat Weltschmerz. :devgrin: Man muss Pubertierende einfach lieben. :hehe:
Parzifal:
Hallo!
--- Zitat ---Macht der Magister Musicae Josef Knecht was vor (oder schlimmer: sich selbst), wenn er über die Unfreiheit der freien Berufe redet. - Ist, sich der Lateinischen Aussprache im 12. Jahrhundert zu beschäftigen, wirklich Freiheit? Oder ist das nicht einfach nur ... ein Zeittotschlagen, weil man halt sonst nix mit seiner Zeit anzufangen weiß. (Oder sind das nur die, die allen Talenten zum Trotz, schlicht unbrauchbar sind?) Und wo ist die Freiheit, wenn man sich "immer an den Ort stellen und zu der Funktion bestimmen [lässt], welche die Oberen [...] wählen"? - Gut, der MM relativiert das gleich wieder, indem er sagt, dass die Oberen da wiederum nur auf die vorhandenen Talente reagieren. (Das würde irgendwie die Theorie mit den unbrauchbaren Zeitverschwendern stützen.)
--- Ende Zitat ---
Hesse will damit sagen, dass die sogenannten "freien Berufe" keine Berufe im Sinne von Berufung sind. Sie sind Arbeit, Sklavenarbeit, das nur dem Zweck dient, Geld zu verdienen und den Unterhalt zu bestreiten. Die Mönche der Eliteschule können ihre Berufe als tatsächliche Berufung begreifen und leben; sie müssen keinem Zweck dienen. Wenn einer sich mit der lateinischen Aussprache im 12. Jahrhundert beschäftigen will, dann hat er die Freiheit, das zu tun. ;)
--- Zitat ---Und wieso kann einer nicht volle Freiheit genießen, der von Kindesbeinen an nichts anderes wollte, als Klempner werden? Gut, auch das hat Hesse nicht allgemein für alle Nicht-Electi behauptet.
--- Ende Zitat ---
Die Vorstellung von diesem Beruf ist ja vielleicht noch schön und man kann ja auch tatsächlich frei auswählen, was man werden möchte. Aber damit ist es mit der Freiheit auch schon vorbei.
--- Zitat ---Trotzdem dieser ganze Teil scheint mir irgendwie faul ... Vor allem, weil das Kapitel ja mit den Worten des Meisters endet: "[...] wer höher steigt und größere Aufgaben bekommt, wird nicht freier, er wird nur immer verantwortlicher."
--- Ende Zitat ---
Richtige verstandene Freiheit ist Verantwortlichkeit, das will Hesse uns damit sagen. Es gibt natürlich welche, die meinen, dass Freiheit bedeutet, alles tun zu können (sozusagen ohne Rücksicht auf Verluste) Aber die sind auf dem Holzweg. ;)
--- Zitat ---Andererseits, nachdem mir der Josef am Anfang des Kapitels (als Kind) kaum nahe kam, und er auch irgendwie noch farblos blieb - er war halt der Aufhänger, um noch etwas mehr Welten- und Gesellschaftsbastelei zu betreiben - wurde ich mit Josef dem Teenager dann doch recht schnell recht warm. Er ist so richtig schön auf Sinnsuche, verzweifelt an sich und der Welt, weiß nicht, wohin zuerst und hat Weltschmerz. :devgrin: Man muss Pubertierende einfach lieben. :hehe:
--- Ende Zitat ---
Ich glaube nicht, dass die Sinnsuche vorübergehende Anwandlungen eines Pubertierenden sind. Knecht ist ein außergewöhnlicher Mensch und hat es aufgrund seiner Fähigkeiten und menschlichen Eigenschaften geschafft, zu einer Elite aufzuschließen. Und nicht nur das, es wird ja im Vorwort schon gesagt, er schafft es bis an die Spitze, bis zum Magister. Wäre nicht sein Leben von Anfang an eine Sinnsuche und Selbstfindung gewesen, wäre ihm dieser Weg nicht möglich gewesen (das will uns Hesse auch sagen) Das wird später noch wesentlich klarer, als ein anderer Schüler (mit dem sich Knecht anfreundet) in diese Einrichtung kommt, diesen Weg aber nicht auf Dauer beschreiten kann. Hesses Romane befassen sich im Übrigen alle mit dem gleichen Grund-Thema: Suche und Selbstfindung - zumindest die sechszehn, die ich bisher gelesen habe. ;)
LG, Parzifal
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