05 February 2025, 07:53:14

Autor Thema: Schreiben lernen - Handwerk polieren  (Gelesen 1565 mal)

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merin

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Schreiben lernen - Handwerk polieren
« am: 03 January 2025, 12:15:29 »
Liebe Teufelz,

wie so oft bin ich mal wieder an einem Punkt, an dem ich denke, dass es mir gut tun würde, mich etwas mehr in die Theorie des Schreibens zu vertiefen. Mir die nächste Stufe Handwerkszeug draufzutun. Die Schreibratgeber und Podcasts stapeln sich hier real und virtuell -- aber wie so oft, passiert mit diesen Stapeln wenig. Daher hoffe ich darauf, dass es hier Leute gibt, die auch Lust haben, sich mit Schreibhandwerk zu beschäftigen und sich darüber mit mir auszutauschen. Die Idee ist, dass einfach jede Person, die mitmacht, davon erzählt, was sie liest oder hört und was davon die Aha-Effekte oder Anregungen waren. Andere können eigene Gedanken dazu äußern, die Sache nachlesen oder hören, so sie wollen. Ich hoffe, dass uns das ein bisschen motiviert und wir so mit- und voneinander lernen können. Dabei ist es völlig egal, ob ihr selbst Ratgeber hören oder lesen wollt, oder ob ich einfach euren Input dazu mitgebt. Sollten dabei längere Unterthemen entstehen, kann ich die zwecks Übersichtlichkeit abtrennen, aber erstmal kann alles hier hinein, was mit dem Schreiben zu tun hat.

Das Jahr gestartet habe ich mit dem Podcast Writing Excuses, Folge 19.46: An Interview on Strukture with N.K. Jemisin. Von Jemisin habe ich "Emergency Skin" gelesen und das hat mich echt geflasht, daher war ich gespannt, was eine so bekannte und erfolgreiche Schwarze feministische Phantastik-Autorin zu Struktur zu sagen hat. Weil das gerade das ist, womit ich in meinen Romanen so ringe (unter anderem). Was habe ich mitgenommen:
- ähnlich wie ich plant Jemisin fast nicht. Sie schreibt drauflos und achtet dabei besonders darauf, aus marginalisierten Perspektiven zu schreiben und das zu Ende zu denken (auch wie ich)
- bei neuen Projekten schreibt sie erstmal Warmschreibkapitel. Das meiste davon wird verworfen. Sie probiert verschiedene Stile, Perspektiven und Stimmen aus, bis etwas passt (und ich dachte, so viel zu verwerfen, sei eine Niederlage ...)
- auch sie schreibt erstmal viel zu viel hin und schraubt das bei den Überarbeitungen weiter und weiter zurück. Die Subtilität entsteht durch Weglassen, aber das geht erst, nachdem sie es alles offensichtlich hingeschrieben hat (reich mir dir Flosse!)
- auch sie braucht Testleser*innen und auch sie kommt bei jedem Projekt an einen Punkt, an dem sie denkt, dass sie es verwerfen muss, weil es so schlecht ist
- als Hausaufgabe regt sie dazu an, eine Figur in verschiedenen Charakterausprägungen zu schreiben: Einmal als diplomatisch und freundlich und einmal als abgegessen und rotzig. Was würde dann in den Dialogen geschehen?
- die Struktur wird also nicht geplant, sondern sie entsteht organisch, auch wenn sie nachher komplex erscheint

Mich hat daran vor allem angeregt, dass das Verwerfen großer Mengen an Text keine Niederlage, sondern Teil des Prozesses ist. Wenn mein Schreibprozess so funktioniert, dann ist das okay.

Bin gespannt, was ihr dazu meint.

Liebe Grüße
merin

Ich röste zunächst immer, ohne andere Röstungen zur Kenntnis zu nehmen. Dabei ist mein Ansatz der, eine qualifizierte Lesermeinung abzugeben, Euch also zu verraten, wie der Text auf mich wirkt und wie es mir beim Lesen geht und was ich gern anders hätte.

diffusSchall

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Re: Schreiben lernen - Handwerk polieren
« Antwort #1 am: 03 January 2025, 14:41:06 »
Hi merin,

sehr schöner Thread, ich liebe sowas.

Mich hat daran vor allem angeregt, dass das Verwerfen großer Mengen an Text keine Niederlage, sondern Teil des Prozesses ist. Wenn mein Schreibprozess so funktioniert, dann ist das okay.

Das ist etwas, dass ich für mich auch gelernt und angenommen habe. Ich bin zu Beginn meiner Autorenschaft zwischen den Extremen Pantsern und Plotter heftig gependelt und jetzt settled sich das langsam. Eine Erkenntnis daraus ist ganz klar, dass zu viel schreiben auch bei mir dazu gehört: zur Entdeckung der Storyline, zur Schärfung der Figuren.
Ich merke jetzt gerade am (eigentlich nächsten) Romanprojekt, dass einige Schlüsselszenen, die ich im Kopf schon seit geraume Zeit herumtrage, raus wollen. Das geschieht dann für mich überraschend detailliert. Da hat das Unbewusste schon Schwerstarbeit getan. So ergibt sich fast zwangsläufig ein grobes Gerüst an dem andere Szenen ansetzen und sich entwickeln.

Das davon nicht alles Verwendung finden wird, liegt auf der Hand. Manchmal werden sie verworfen oder es entstehen ein, zwei weitere Varianten.
Für mich ist inzwischen im Kopf klar, dass das alles nicht falsch ist und immer seinen Zweck erfüllt. Es wäre schön, effektiv und sparsam zum Topergebnis zu kommen. Aber das hat auch bei mir nichts mit der Realität zu tun. Und letzten Endes gehört auch das zu viel zur Freude am Prozess, am Schreiben. Ich verbringe dadurch mehr intensive Zeit mit meinen Figuren und dafür bin ich wiederum am Ende des Tages dankbar.

LieGrü - diffusSchall
« Letzte Änderung: 03 January 2025, 14:51:22 von diffusSchall »
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merin

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Re: Schreiben lernen - Handwerk polieren
« Antwort #2 am: 05 January 2025, 12:27:01 »
Oh schön, da sind wir schon zu zweit. Ich habe heute Folge 19.49 desselben Podcasts gehört, weil ich den Titel "Getting to Know You" falsch interpretiert hatte. Ich nahm an, es gehe darum, meinen eigenen Prozess besser zu verstehen, aber real geht es darum, Romance-tropes in jeder Geschichte zu nutzen, wenn es um die Beziehung zweiter Figuren geht.
Die Autor*innen bringen folgende Ideen ein:

meet cute
Zwei Figuren treffen aufeinander und eine rettet die andere aus einer unangenehmen Situation. Der Klassiker ist, jemand verschüttet Tee auf eine andere Person und die geht damit gut um. Aus dieser Situation gehen dann beide mit einem positiven Eindruck voneinander heraus und vielleicht auch mit einer zukünftigen Kontaktmöglichkeit.
Was ich da raus nehme ist, dass es natürlich die Beziehung zweier Figuren positiv auf die Bahn bringt, wenn eine Person die andere angenehm fand. Was aber irgendwie auch banal ist.

dismissing another
Person A will nichts mit Person B zu tun haben und dann kommen sie doch zusammen. Wichtig dabei ist, dass das nicht plötzlich geschieht, sondern allmählich: von "niemals" zu "hmm naja vielleicht einmal", zu "oh ja, doch ganz interessant" zu "oh cool"!

Ähnlichkeiten
Zwei Leute, die herausfinden, dass sie eine überraschende Gemeinsamkeit haben, fühlen sich verbunden.
Kowal stellt außerdem eine Kompatibilitätstheorie vor, die offenbar Datingadvice ihrer Schwiegermutter war:
mind (ähnliche Denkweisen)
money (ähnliche Ideen, wofür man Geld ausgeben sollte)
morals (ähnliche Werte)
manners (ähnliche Ideen, was höflich ist)
monogamy (ähnliche Ideen über Freundschaft und Beziehung - was ist eng?)
mirth (ähnlicher Humor)
Wenn da eine oder zwei verschieden sind, sorgt das für Konflikt

Hausaufgabe: Was findet deine eine Figur an der anderen attraktiv oder sympathisch?

Ich muss sagen, mit dieser Folge konnte ich fast gar nichts anfangen. Ich fand die Tipps zu schematisch oder banal. Und wusste sofort, warum ich die Bücher von Kowal nicht mag, denn darin finden sich (zumindest in den beiden, die ich gelesen habe) haufenweise derartiger tropes, die ich einfach nur mega ausgelutscht finde. Interessant wäre für mich, neue Weisen des meet cute zu finden. Aber meist brauche ich die schlicht nicht, weil es sich organisch ergibt, wie sich meine Figuren treffen.
Die Ms sind vielleicht hilfreich, um sich nochmal klarzuwerden, wo es Konflikt- oder Annäherungspotenzial zwischen Figuren gibt. Aber da es im Geflecht2 mehrere Kulturen gibt, die kein Geld kennen, ist da schon klar, wie normativ diese Annahmen auch sind.
Ich röste zunächst immer, ohne andere Röstungen zur Kenntnis zu nehmen. Dabei ist mein Ansatz der, eine qualifizierte Lesermeinung abzugeben, Euch also zu verraten, wie der Text auf mich wirkt und wie es mir beim Lesen geht und was ich gern anders hätte.

diffusSchall

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Re: Schreiben lernen - Handwerk polieren
« Antwort #3 am: 13 January 2025, 11:07:42 »
Aber meist brauche ich die schlicht nicht, weil es sich organisch ergibt, wie sich meine Figuren treffen.

Ja, ich verlasse mich da bisher auch auf meine Intuition und bilde mir ein, ein gutes Popometer zu haben, was in einem Dialog Sinn macht und frisch ist, und was repetitiv ist. Mir da grundsätzlich im voraus eine Gesprächsstrategie für jede Figur zu überlegen, würde mir den Schreibprozess zerschießen. Ich schaue dann bei der Überarbeitung, mit etwas Abstand, ob mein Bauchgefühl zu dem Dialog stimmt, ob er mich mitnimmt. Danach wird erst optimiert, nach den Stimmen der Figuren geschaut usw.

Zum Thema Interaktion von Figuren hier einmal ein Textauszug von Orson Scott Card aus seinem Vorwort aus "Sprecher für die Toten":

Zitat
Die meisten Romane kommen damit aus, die Beziehungen zwischen zwei oder höchstens drei Figuren zu zeigen. Das liegt daran, dass die Schwierigkeit, einen Charakter zu erstellen, mit jedem neuen Hauptcharakter steigt, der der Geschichte hinzugefügt wird. Charaktere, so verstehen die meisten Autoren, werden wirklich durch ihre Beziehungen zu anderen entwickelt. Wenn es nur zwei signifikante Charaktere gibt, dann gibt es nur eine Beziehung, die erforscht werden kann. Wenn es jedoch drei Zeichen gibt, gibt es vier Beziehungen: Zwischen A und B, zwischen B und C, zwischen C und A und schließlich die Beziehung, wenn alle drei zusammen sind.
Selbst das erklärt nicht ansatzweise die Komplexität – denn zumindest im wirklichen Leben verändern sich die meisten Menschen, zumindest subtil, wenn sie mit verschiedenen Menschen zusammen sind.
[...]
Ich habe das immer wieder bei meinen Freunden, bei anderen Familienmitgliedern gesehen. Unser ganzes Verhalten ändert sich, unsere Eigenheiten, unsere Redewendungen, wenn wir von einem Kontext in einen anderen wechseln. Hören Sie jemandem zu, den Sie kennen, wenn er den Hörer abnimmt. Wir haben spezielle Stimmen für verschiedene Menschen; Unsere Einstellungen, unsere Stimmungen ändern sich, je nachdem, mit wem wir zusammen sind.
Wenn also ein Geschichtenerzähler drei Figuren erschaffen muss, erfordert jede unterschiedliche Beziehung, dass jede Figur darin transformiert werden muss, wenn auch subtil, je nachdem, wie die Beziehung seine oder ihre gegenwärtige Identität formt. In einer Geschichte mit drei Charakteren muss sich ein Geschichtenerzähler, der uns von der Realität dieser Charaktere überzeugen will, wirklich ein Dutzend verschiedene Rollen einfallen lassen, vier für jede von ihnen.

Card hat mit seiner Beobachtung völlig recht. Ich frage mich, ob ich bei der Figurenformung den Character Sheet um die Eigenschaft "Art der Gesprächsführung" erweitern sollte oder sowas wie eine Gesprächsmatrix mit allen Figuren zu erstellen, um da eine valide Referenz zu schaffen. Denn wenn man ein komplexeres Gemisch an Figuren in engerer Interaktion vorsieht, wird man um eine entsprechende Schärfung der Figuren wohl kaum herum kommen.

Noch ein anderer Gedanke: Ich habe vor Jahrzehnten ein Buch über Transaktionsanalyse gelesen. Dir wird das wahrscheinlich was sagen, merin. Das war, wenn ich mich recht entsinne, in den 70er / 80er Jahren ein populäres Modell in der Psychotherapie/-analyse, ist aber wegen ihrer Simplifizierung aus der Mode gekommen.
Ich kann mir aber sehr gut vorstellen, dass man diese als Schriftsteller zur Planung eines Dialoges durchaus heranziehen kann, wenn man mit der Intuition nicht weiter kommt.

LieGrü - diffusSchall
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Re: Schreiben lernen - Handwerk polieren
« Antwort #4 am: 13 January 2025, 15:48:16 »
Oh ja, das ist spannend: Wer ist die Figur mit wem? Und wie verändert sie sich, wenn sie mit x oder y zusammen ist? Es ist eine spannende Frage, ob es möglich ist, das aufzuschreiben. Ich denke sofort daran, dass eine Figur mit x viel weicher sein kann als beispielsweise mit y.
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Re: Schreiben lernen - Handwerk polieren
« Antwort #5 am: 26 January 2025, 16:00:20 »
Heute habe ich Writing Excuses 18.49 gehört "Giving your Story A Voice". Inzwischen weiß ich ja schon, dass Kowal immer einfache Kategoriesysteme anbietet. Hier ist das etwas zu der Stimme eines Textes auf verschiedenen Ebenen, was für mich so wenig eingängig war, dass ich es vergessen habe. Aber was ich mitgenommen habe und was ja auch einleuchtend (und nicht neu für mich) ist: Es gibt Dinge, die wir durch Handwerkszeug bewusst wählen und ändern können, wie Perspektive und Genre, und dann noch Dinge, die wir kaum beeinflussen können, wie unsere je eigene Erzählstimme. Schreibenlernen heißt immer, diese eigene Stimme zu finden und zu trainieren und dabei nicht davor zurückzuschrecken, im Text sichtbar zu werden. Diese Angst vor dem Sichtbarwerden, das kenne ich durchaus.
Die Hosts des Podcasts sprechen außerdem darüber, wie sich die Stimmen der Figuren mit unserer je eigenen Erzählstimme überlagern und wie mensch daran arbeiten kann, diese Stimmen zu perfektionieren. Welche Vergleiche wählt eine Figur, wie spricht sie mit wem, wie unterscheidet sich Gedachtes von Gesagtem? Erin Roberts erzählt davon, wie sie Aufnahmen von Sprecher*innen eines bestimmten Dialekts angehört hat, um in einer Kurzgeschichte den richtigen Ton zu treffen. Dabei geht es nicht darum, den Dialekt oder Akzent zu persiflieren (was verletzend sein kann für die Personen, die ihn sprechen), sondern etwas im Sprachfluss, dem Tempo oder Wortschatz zu finden, was sich gut umsetzen lässt. Ich kenne ehrlich gesagt keine Person, die sich für eine Kurzgeschichte so viel Arbeit gemacht hat. Und habe so eine weitere Antwort auf die Frage gefunden, warum ich so wenige wirklich gute deutsche phantastische KGs finde.

Die Autor*innen berichten außerdem davon, dass sie bestimmte Musik hören oder Autor*innen lesen, um vor dem Schreiben in die richtige Stimmung zu kommen. Als Hausaufgabe schlagen sie vor, im Café oder einem Podcast einer Person zuzuhören und einen Dialog zu schreiben, in dem die Art dieser Person, zu sprechen, eingefangen ist.
Wow, das halte ich für eine schwierige Übung. Aber vielleicht sollte ich es mal probieren.
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