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Alternative Erzählstrukturen

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Wildfee:
Ich habe die These, dass sämtliche(?) Plot- und Erzählmethoden, die in der "westlichen" Welt verwendet werden, auf eine Grundform runtergebrochen werden können: Einführung-Spannungsaufbau-Höhepunkt-Spannungsabbau-Ausklang.
Nahezu jede Story funktioniert so (Story im Sinne von Roman,Erzählung, grimmsche Märchen, Theatherstück, antike Dramen) (Gegenbeispiele sind mir herzlich willkommen!) und ich frage mich, ob es Gesellschaften gibt, die Erzählungen anders strukturieren. (wenn da jemand Lesetipps hat, ich suche danach!)

Ist eine andere Erzählstruktur schon progressiv? Wie gelingt es trotz ungewohntem oder nicht vorhandenem Spannungsbogen den Leser bei der Stange zu halten? Welche Bücher kennt ihr, die den gängigen Mustern widersprechen?

Ich würde mich freuen, wenn sich hier eine interessante Diskussion entwickeln würde :-)




merin:
Hi Wildfee,

oh da hast du ein spannendes Thema begonnen, an dem ich auch seit einer Weile herumdenke. In meinem "Plotten wie die Amis"-Thread habe ich einiges dazu aufgeschrieben, was eine Geschichte ausmacht. Der Autor denkt aber nicht darüber nach, ob seine Sicht darauf vielleicht eurozentristisch ist.
Ich kenne einige der Ananse-Geschichten, die in Ghana sehr verbreitet sind. Die sind eigentlich immer so, dass der Spinnenmann Ananse Leute übertölpelt. Sie entsprechen sehr den hiesigen Schemen, allerdings sind sie möglicherweise auch stark von europäischen Erzähltraditionen beeinflusst. Ich habe mal versucht, mich mit der Akan-Tradition des Linguisten auseinanderzusetzen, allerdings sind die für mich so fremd, dass es enorm schwer ist, sie zu verstehen. Die Leute, mit denen ich darüber sprach, wollten oder konnten es mir nicht so erklären, dass ich es verstanden habe. Mein Gefühl war, dass diese Art des Sprechens sehr von Symbolik und Gleichnissen lebt - und von einer impliziten Hierarchie, die man verstehen muss.

Ich selbst fahre ja die Schiene, dass ich versuche, den Spannungsbogen recht klassisch aufzubauen, aber mich der Zuspitzung zu entziehen, die gerade so Mode ist. Für mich ist das progressiv genug.

Wenn ich mir ansehe, wer Spannung anders gemacht hat und wo das funktioniert, fallen mir mehrere Texte ein, die ich in letzter Zeit gelesen habe:
- Becky Chambers Monk & Robot, aber auch viel von den Wayfarer-Sachen. Es fällt mir enorm schwer zu verstehen, warum die Spannung dort funktioniert, darum kann ich da gar nicht viel Schlaues drüber sagen. Nur dass es funktioniert. Mein Gefühl ist: Solange die Charaktere stimmig sind und der Weltenbau sinnlich gezeigt wird, lese ich es gern.
- June Is: "Gefangen zwischen den Zeilen" - auch das funktioniert eher assoziativ. Mein Gefühl ist, es ist die Freude an den Einfällen, die mich da bei der Stange hält, ähnlich wie bei "Wo beginnt die Nacht" von Sven Haupt
- "Neongrau" von Aiki Mira hat zwar ein klassisches Spannungsmoment, aber es ist enorm unwichtig im gesamten Text, der eher von der Sprachgewalt und den kleinen Weltenbaudetails lebt. Allerdings habe ich mich da zwischendurch schon gelangweilt, muss ich zugeben.

Tja, ist ein anderer Spannungsaufbau schon progressiv? Ich würde behaupten: nein. Slice of life beispielsweise hat meist gar keine Spannung, es ist einfach nur die Faszination am Zusehen und Eintauchen, die uns da hält. Ob das dann progressiv ist, würde ich eher am Inhalt festmachen.

Liebe Grüße
merin

Wildfee:
Ich denke beim Abweichen von konventionellen Erzählstrukturen schon an Progressivität. Ich habe das Buch bisher noch nicht gelesen (warum eigentlich, frage ich mich grade), aber mir kommt Cloud Atlas in den Sinn. Der Film ist beim Publikum ziemlich durchgefallen, weil er zu ungewöhnlich, zu anders war und eben nicht der gängigen Struktur gefolgt ist.
Ebenso ungewöhnlich wäre es, ein Buch mitten im Höhepunkt enden zu lassen  :gruebel:

Viskey:
Persönlich bin ich mit der Spannungsbogen-Geschichte durchaus zu frieden. Als Gegenbeispiel fällt mir "Briefe an ein nie geborenes Kind" ein. Autorin - keine Ahnung, es ist Jahre her, seit ich es gelesen habe. Es ist eine Erzählung, die eigentlich nur Gefühle erörtert, aber so gekonnt und so poetisch, dass ich heute noch manchmal daran denke, und immer wieder auch denke, ich müsste das mal wieder lesen ... Aber das Buch liegt am Dachboden irgendwo in irgendeiner Kiste ...
Jedenfalls ist es eine Stream of Consciousness-Geschichte. Für einen Roman wahrscheinlich auch zu kurz, und ich habe es fast als störend empfunden, als so etwas wie Plot kurz den Kopf hob.
Ich kann das Buch trotzdem nur empfehlen.

Wenn es jetzt wirklich darum geht, eine Geschichte zu erzählen, mit Plot und Entwicklungen und allem ... puh. Ich bin nicht sicher, ob das ohne Spannungsbogen geht. Vielleicht sollte man dazu Träume genauer ansehen? Wie träumen wir, was träumen wir? Wie lösen sich die Geschichten auf - wenn sie es denn tun?
Ich selber träume ja kaum mal was (bzw kann mich eben nicht erinnern), und wenn, dann sind es nur kurze Bilder oder Wörter,  aber andere Menschen träumen ja wohl wirklich ganze Geschichten, hab ich gehört.
Wenn Träume die ursprüngliche Art des Geschichtenerzählens ist ... Wie läuft das dann dort ab?

merin:
Ich glaube nicht, dass Träume die ursprüngliche Art des Geschichtenerzählens sind. Sondern dass Geschichtenerzählen die ursprüngliche Art von Geschichte ist. Historie. Das heißt, Geschichten haben etwas mit Identität und Herkunft zu tun und vielleicht wäre es dann progressiv, sich auf andere Aspekte davon zu berufen als eben die klassischen, von weißen Männern geschriebenen Geschichten. Das Problem ist, dass ich nicht so viel anderes kenne - also wirklich historisch.

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