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Handwerkszeug

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Viskey:
Liebe Teufel·innen!

Darin, dass das Handwerkszeug wichtig ist, sind wir uns alle einig. Die Frage scheint zu sein: Was ist es, und wie erwirbt man es?
Grammatik gehört mit Sicherheit dazu, auch Rechtschreibung. Aber ist Stil noch Handwerkszeug oder schon Meisterklasse? Wie sieht es beim Aufbau einer Geschichte aus? Drei-Akter, Schneeball, Hosenboden ...?

Ich fange hier mal einen Stream-of-Consciousness-Thread an. Ergänzungen, Widersprüche, Kritiken ausdrücklich erwünscht.

Grammatik:
Ja, die muss sitzen. Da gibt es für mich auch keine Diskussion und kein Pardon. Manchmal verschachtelt man sich beim Schreiben und weiß dann nicht mehr, welcher Bezug wohin geht. Manchmal hat man (also ich) zwei Gedanken gleichzeitig im Kopf, und das Ergebnis auf dem Papier ist ein Misch-Masch aus beiden. Manchmal geht das Denken so viel schneller als das Tippen, und es fallen Wörter unter den Tisch (auch ich, offenbar ein echt hartnäckiges Problem).
In der Rohfassung ist das alles überhaupt kein Ding. Aber in der Überarbeitung muss das korrigiert werden, und da meine ich auch wirklich korrigiert, weil so grau Schreiben in allen anderen Bereichen ist, wo in so vielen Bereichen das gleiche Ding sowohl falsch als auch richtig ist, in der Grammatik gibt es ganz klar ein Richtig und viele Falschs.

Rechtschreibung:
Auch da gibt es ein richtig und falsch, wobei schon da die Sache anfängt, aufzuweichen. Nehmen wir mal nur die Schweizer - um ein einfaches Beispiel zu nehmen -, die kein ß haben. In der Schweiz ist die Strasse nicht falsch.
Leider ist unsere deutsche Sprache mit einem extrem "einfachen" Regelwerk gesegnet. Aber dafür gibt es Rechtschreibprüfungen, die jedes Schreibprogramm anbietet. Die sind nicht unfehlbar, aber man sollte sie absolut anwenden, immer, auch diejenigen, die an sich sattelfest sind. Tippfehler passieren so schnell ...

Stil:
Den möchte ich durchaus zum Handwerkszeug rechnen. Nicht, wie genau jemand schreiben soll, da sollen sich bitte alle nach ihren Vorlieben und Geschmäckern austoben, wie sie wollen.
Aber das Geschriebene sollte in sich einheitlich sein. Das ist gerade am Anfang schwer in den Griff zu bekommen.


Und jetzt geht mir die Mittagspause aus ... :deveek: Ich mach dann am Abend weiter.


merin:
Ich finde das einen spannenden Thread. Für mich war es auch lange so, dass ich fand, dass das Handwerk absolut sitzen muss. Dazu gehört für mich auch der Stil inklusive einem breiten Wortschatz. Irgendwann wurde mir hier im Forum bewusst, dass diese Sachen natürlich sehr mit Privilegien verknüpft sind: Um das Handwerkszeug mitbekommen zu haben, braucht man Bildung und die ist in Deutschland stark an die Klasse geknüpft. Personen, die eine andere Muttersprache haben, sind hier genauso benachteiligt, wie Personen mit Lese-Rechtschreib-Schwäche oder anderen Besonderheiten. Das Recht, sich auch schriftlich auszudrücken, sollte jeder Person offenstehen und ich frage mich immer wieder, wie das gelebt und umgesetzt werden kann. Möglicherweise sind hier ChatGPT und Konsorten wirklich eine Hilfe, um Kauderwelsch in lesbare Texte zu ändern. Ich habe in meinem Umfeld eine Person mit LRS, die davon sehr profitiert. Allerdings kann ein Bot nicht unsere Gedanken ordnen - und auch das zu können, ist ja ein Privileg.

Insofern würde ich auch das Plotten zum Handwerkszeug zählen: Eine Idee zu haben, was eine Geschichte ist, dass es da einen Anfang, einen Mittelteil und einen Schluss gibt und klassischerweise Kausalitäten und einen Spannungsbogen. Wenn jemand nicht in der Lage ist, Texte so zu konstruieren, dann kann sicher experimentell etwas Spannendes dabei herauskommen. Bestimmt ist es möglich, andere Wege zu suchen, denn nicht jeder Text erzählt eine Geschichte. Aber ich fürchte, dass das sehr schwer ist und dann eine andere Sorte Handwerkszeug das, was fehlt, ersetzen muss. Rhythmusgefühl vielleicht oder ein sehr eigener Stil.

Viskey:
Bevor ich weitermache und hoffentlich noch ein paar interessante, kluge Gedanken aus meinem Hirn herausquetschen kann, möchte ich kurz darauf eingehen:


--- Zitat von: merin am 30 March 2023, 17:32:24 --- Irgendwann wurde mir hier im Forum bewusst, dass diese Sachen natürlich sehr mit Privilegien verknüpft sind: Um das Handwerkszeug mitbekommen zu haben, braucht man Bildung und die ist in Deutschland stark an die Klasse geknüpft.

--- Ende Zitat ---
Klar, Bildung ist ein Privileg. Allein schon, dass wir alle schreiben können, ist eigentlich extrem bemerkenswert, historisch betrachtet auf alle Fälle.
Aber da habe ich, denke ich, dann weniger strenge Maßstäbe als du. Ich brauche keine ausgefeilte Sprache, keinen überwältigenden Wortschatz, keine Sätze, die sich über drei Zeilen und fünf Teilsätze hinziehen.

Aber es überrascht mich immer wieder, wie manche Menschen alle Grammatik zu vergessen scheinen, wenn sie sich hinsetzen und schreiben. Ich meine, reden können wir auch alle, und wir benützen dabei Grammatik - und in aller Regel auch richtig. Ja, wir stammeln auch viel, brechen Sätze mittendrin ab, überlegen es uns anders und beginnen neu, werden unterbrochen, kommen mittendrin drauf, dass wir Blödsinn verzapfen ... Aber auch solche abgebrochenen Sätze fände ich jetzt nicht falsch und setze ich zB auch immer wieder mal bei Dialogen ein.
Aber wenn wir von unserem Wochenende erzählen, oder davon, wie toll der Film war, den wir gesehen haben, oder vom neuen Freund, vom Urlaub, den wir planen ... Da sind viele vollständige Sätze dabei, und es wäre mir noch nie aufgefallen, dass die Sprecher dabei plötzlich grammatikalisch falsch werden würden. Wir beherrschen die Grammatik unserer Muttersprache, wir alle. Nur scheinen viele (ja, leider wirklich viele), dieses Wissen abzugeben, sobald sie sich an eine Tastatur setzen und "Literatur" schreiben wollen. Weil ... keine Ahnung, das ist auch ein Thema, das mich mal brennend interessieren würde, woran das liegt.

merin:
Ich komme immer wieder mit Menschen in Kontakt, die nicht grammatikalisch richtig sprechen. Dialekte sind eine Sache, die viel zulässt, was in der Schriftsprache bis auf Ausnahmen nicht goutiert wird. Und Menschen, die sehr mit psychischen Schwierigkeiten ringen, können auch oft nicht nachvollziehbar erzählen. Meine Arbeit hat ja viele narrative Anteile und da geht es recht häufig darum, Leute überhaupt dazu zu befähigen, Narrative über sich bilden zu können. Psychische Störungen und Klasse sind auch arg korreliert.

Aber ich will dich gar nicht ablenken. Ich bin gespannt, was du zu sagen hast.

Viskey:
So, Feierabend, weiter geht's.

Genre/Erwartungen:
Das ist für mich absolut Handwerkszeug, die genretypischen Elemente.
Was erwartet das Publikum von Genre XY? Urban Fantasy? Da muss ein bisschen Grit und ein bisschen Dreck rein. High Fantasy? Gold und Silber und Geschmeide und wortgewaltige Bilder und Mystik. Sci-Fi? Weltraum und coole Technik. Romance? Zweifel, der/die Nebenbuhler·in, scheinbar unüberwindbare Hürden ... und das unausweichliche Happy End.
Sci-Fi, wo die Raumschiffe immer über die Köpfe der Figuren wegfliegen und es sonst keine Berührungspunkte mit ihnen gibt? Ich würde mich schwerstens verarscht vorkommen. Selbst wenn die Geschichte selbst cool ist, ich will sie so einfach nicht als Sci-Fi verkauft bekommen.
Ein Liebesroman, wo sich die beiden am Ende nicht kriegen? Hui-ui-ui.

Welche dieser Elemente man für die eigene Geschichte verwenden und ignorieren möchte, ist dann eine andere Entscheidung, ebenso wie die Entscheidung mit einem Element zu brechen, oder Genres zu mischen. Aber wie bei allen Schreibregeln: Man sollte sie erst brechen, wenn man sie beherrscht.
Und dezitiert ausnehmen möchte ich hier auch Erwartungshaltungen, die man selbst beim Publikum aufbaut und erfüllt oder enttäuscht.


Wirkung:
Eng verknüpft mit den Erwartungen des Publikums ist die Wirkung des eigenen Texts - oder irgendeines Texts.
Da gehören so Dinge rein wie lange vs. kurze Sätze, Erzählzeit und Erzählperspektive. Eine Ich-Perspektive im Präsens wirkt einfach anders als ein auktorialer Erzähler im Imperfekt.
Kurze Sätze lesen sich schneller und einfacher und suggerieren damit ein schnelleres Vergehen von Zeit. Auch hat man, wenn man's eilig hat, keine Zeit, sich lange, gefeilte Sätze auszudenken, sondern reduziert sich aufs Wesentliche: Ich renne so schnell ich kann. Es ist heiß und ich schwitze schon nach den ersten zwanzig Metern. IM Gegensatz dazu ein möglicher Beobachter: Er rannte an Rudi vorbei die Straße runter, und Rudi fragte sich in seinem Liegestuhl unweigerlich, wie der Junge bei dieser Affenhitze genug Energien aufbrachte, um auch nur zu gehen, geschweige denn zu laufen, und im nächsten Moment fragte er sich, was es so wichtiges geben konnte, dass der Junge meinte, nichts als ein Sprint wäre der Situation angemessen.

Aber hier geht's dann schon ans Feilen, wie ich finde. Wenn der stets feingeistige Poirot plötzlich "Scheiße" rufen würde, wäre das - mal abgesehen vom absoluten Stil- und Charakterbruch - so aufrüttelnd, dass jeder, der's liest sofort weiß: Jetzt ist die Kacke aber mal so richtig am Dampfen! Wenn das und expliziteres aber in einem Charles Bukowski vorkommt ... naja. Da wär's aufrüttelnder, wenn das plötzlich fehlen würde.


UND WIE LERN ICH'S JETZT?!
Tjaaa. Das ist die Frage, nicht?

Ich fürchte, darauf gibt es keine Antwort, bzw. so viele Antworten, wie es Autor·innen gibt. Wir alle schreiben anders, wir alle haben unseren höchsteigenen Prozess, angefangen vom der Ideenentwicklung übers Plotten bis hin zum Schreiben selbst - welches Programm verwenden wir, um welche Uhrzeit schreiben wir, ...

Ich persönlich habe angefangen mit zuallererst Nonsensgedichten. Das war für mich das reine Spiel mit der Sprache, mit Reimen. Ein betrachten der Möglichkeiten, die meine Sprache mir bietet. Ein Abtasten meines eigenen Geschmacks, den ich da noch nicht an dem festmachen konnte, was ich lese. Ich hab ziemlich lange ziemlich alles gelesen, was ich in die Finger bekommen habe. Krimis, Sci-Fi, Liebesromane, Young Adult (wenn auch damals noch nicht unter diesem Namen bekannt).

Dann erste Szenen, die kaum mal länger waren als eine A4-Seite. Dann erste Versuche mit Fanfiction. Die ist bequem, weil man Figuren und Setting quasi frei Haus geliefert bekommt. (Und wenn man Charakterzeichnung üben möchte, kann ich Fanfiction nur wärmstens empfehlen. Aus den Kommentaren dazu wird man unweigerlich erfahren, ob man die Figuren gut getroffen hat oder nicht.)

Und irgendwann war da diese Fanfiction, die eigentlich einfach viel zu cool war, um sie als Fanfiction zu verbraten. Also das Fandom rausgeworfen, die Grundidee behalten, neue Figuren entwickelt (und sich entwickeln lassen), Welt bauen ... Buch schreiben. Und überarbeiten, überarbeiten, überarbeiten, überarbeiten .........

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