Hallo,
bin gespannt auf Euer Urteil. Fragen habe ich unten positioniert.
Annabelle
Ihre Bewegungen waren ruckartig, fahrig, dabei fuhr sie nicht mehr Auto, sondern entstieg eben ihrer lilafarbenen Quetschkartoffel, wie sie den Smart zärtlich nannte. Die Farbe ihres Kleinwagens entsprach der ihres Rockes und des Lippenstiftes, welche gemeinsam mit den pechschwarzen Haaren eine wunderschöne Augenweide schufen.
Heute kommt sie aber zeitig, hat sie nicht einen Frisörtermin?
Als Annabelle eintraf, hatte ich gerade Wäsche aufgehangen, die Spätsommersonne hatte uns einen weiteren warmen Tag geschenkt. An ihrer Seite ihre Tochter, unsere Mädchen waren gleichaltrig, beide gingen in die 4 c.
Warum holte Annabelle denn Cheyenne mit dem Auto ab? Die Mädchen fuhren doch jeden Tag gemeinsam mit dem Rad zur Schule! Und … wo war meine Lena?
La Bella verzauberte jeden Elternabend, jedes Grill- und Gemeindefest durch ihren Charme und Chic, während ich Pummelchen einen Gegensatz zu ihr bildete. Wie Tag und Nacht. Mit Windelwechseln und der Zubereitung von Pausenbroten in der Früh stand ich für den grauen Alltag, während meine schöne Nachbarin Annabelle den glanzvollen Abendstern bildete. Die Pfunde der letzten Schwangerschaft fühlten sich bei mir wohl wie das Unkraut in unserem Gemüsebeet. Und blieben genauso hartnäckig. Annabell hatte eine sexy Figur und kleidete sich auch so, das man sie wahrnehmen musste.
Hatte sich Cheyenne den Fuß verstaucht? Oder ihr Rad einen Platten?
In der Ferne hörte ich das Heulen eines Krankenwagens, selbst die Bienen schienen durch den markerschütternden Ton kurz im Fluge zu verharren, als raubte das akustische Grauen ihnen ein Vorwärtskommen. Ich blickte über meine kleine grüne Oase, bei dem Wetter trocknete die Wäsche sicherlich schnell.
Erst jetzt bemerkte ich an ihrem Auto die Beule am Kotflügel und den kaputten Scheinwerfer. Nanu, hatte ihr Smart Bekanntschaft mit den Brandenburger Alleen gemacht? Ich winkte hinüber, auch ohne Aufforderung nahte sie. Nervös, so kannte ich das selbst-bewusste, ruhige, leicht phlegmatische Schneewittchen gar nicht. Ihre Augen, umrandet von malvenfarbenen Lidschatten mit fliederfarbenen Ausläufern und schwarzer Wimperntusche erinnerten mich an ein angefahrenes Reh.
Annabelle?
Scheiß Freistunde!
Ohne auf den unebenen Gartenweg zu achten, stolperte sie in High heels zu mir. Ich fragte mich jedes Mal, wie sie in den spitzen Dingern laufen konnte. Ihr Garten wies akkurate Wege auf, unser Maulwurfhügel und Giersch. Vor unserem Schuppen standen die Räder, mein Sohn Leon war vor 10 Minuten mit dem Bus gekommen, sonst fuhr er mit dem Rad zum Gymnasium. Heute früh aber hatte er den Bus genommen, er wollte noch zur Bibliothek, die Ausleihfrist hatte bereits vor 5 Tagen geendet.
Wir sind gemeinsam zum Busbahnhof gegangen, hatte er mir erzählt, Selma und ich. Selma musste zur Musikschule, ihr Bus fuhr später. Linie 123, Gegenrichtung.
Ein feines Lächeln überlagerte meine Mundwinkel. Selma Lara Brzeckowsky war neu in seiner Klasse, dass wusste ich von der anderen Elternvertreterin, und mein Sohn schwer verschossen in sie. Die erste Liebe, ein unbekanntes Gefühl. Sein Zimmer ähnelte nicht mehr einer Müllhalde. Er leerte sogar seinen Papierkorb und saugte unaufgefordert den Teppich! Wie ist diese Zeit der Teenager noch schön. Unbeschwert und doch eine klebrig-süße Qual. Ein Ausnahmezustand der Gefühle, eine Dauereuphorie, eine Explosion von Endorphinen. Rosarote Brille.
Leon hatte zurückgelächelte, als ich die Wäsche aus der Waschmaschine zerrte.
Mein Großer!
Kann Selma morgen zu mir kommen? Wir wollen Deutsch lernen und außerdem will ich ihr noch eine CD brennen. Wieder rutschte ein Lächeln von links nach rechts. Meins. Sonst fragte er nie, wenn er seine Kumpel anschleppte. Allerdings bezweifelte ich auch, dass sie je zusammen gelernt hätten.
Gerne!
Danke Mom! Leon hatte sich die Schüssel mit dem Müsli geschnappt und war auf sein Zimmer verschwunden.
Sei bitte leise, dein kleiner Bruder schläft noch, mahnte ich.
Alles klar, hörte ich es noch von der Treppe, bevor die Tür zuging. Das war vor einer
Viertelstunde gewesen, inzwischen kämpfte ich mit 8,5 kg nasser Wäsche und versuchte nun, ein verschrecktes Modepüppchen aufzumuntern. Statt Annabelle hatte ich eigentlich meinen Mann erwartet, Rüdigers Frühdienst musste gleich vorbei sein.
Annabelles Augen gingen unruhig hin und her, als jagten sie ein Tier. Ein angeschossenes, unberechenbares Getier.
Was war nur geschehen? Wo blieb Lena?
An Annabelles Hals baumelte eine rosafarbene Muschelkette, ich hatte sie letzte Woche in Monas Modewelt gesehen und gezögert. Von Billigschmuck halte ich nicht viel, ab 40 sollte man echten tragen. Leider verstieß ich selbst dagegen - aus finanziellen Gründen. Drei Kinder, zwei Kredite für Haus und Auto und nur einer, der jobbte. Das erforderte ein tägliches Jonglieren mit Zahlen und Frustrationsgrenzen.
Rüdiger hatte mir zu Weihnachten Ohrringe geschenkt, teure Opale, die mich an Omas Hustenpastillen erinnerten. Ich konnte mich am 2. Weihnachtsfeiertag nach Leons Videomarathon und Simons Speiattacke nicht beherrschen und monierte den Farbton. Wir hatten einen hässlichen Streit, Besuch, einen maulenden Siebzehnjährigen und zwei heulende Kinder.
In dieser Preiskategorie muss man sich den Schmuck selbst aussuchen.
Dann wäre es ja keine Überraschung mehr.
Fehleinkäufe können wir uns aber nicht leisten.
Scheiß Weihnachten!
Ich fragte mich, wie Annabelle es handhabte. Vielleicht verschenkte ihr Schatz Gutscheine. Oder entführte sie nach dem Frühstück zu Tiffany. Lutz war Handwerker, äußerst geschickt und arbeitete noch schwarz.
Annabelles Auto stand schief und merkwürdigerweise vor unserem Haus, dabei hatte Lutz ein Doppelcarport angelegt. Ich hängte die letzte Boxershorts auf und bot Annabelle Kaffee an, die Terrasse lud sonnendurchflutet dazu ein.
Cheyenne, du kannst in Lenas Zimmer warten. Warum seid ihr denn nicht gemeinsam zurückgeradelt?
Cheyenne senkte ihren Kopf beim Sprechen. Mami hat mich doch abgeholt! Mit
einem kaputten Auto, voll peinlich! Vielleicht schaute Cheyenne auch nur auf ihre
Sandalen, aus denen sie schlüpfte, bevor sie leise durchs Wohnzimmer hinauf in Lenas Zimmer schlich.
Mein Warum blieb in der Luft hängen wie der schwache Duft der Wildrosen. Aus dem Kinderzimmer hörte ich kurze Zeit später Monrose kreischen, während Annabelle die ganze Zeit schwieg.
Nur die Kaffeemaschine gab glucksend ihrer Verärgerung zum Ausdruck, dass sie bereits vor 14.00 Uhr arbeiten musste.
Auch von Annabelle erhielt ich keine Auskunft, ihr Blick traf mich wie ein Steinschlag in der Windschutzscheibe. Von unserer Abmachung des gemeinsamen Radelns unserer Töchter erhoffte ich mir eine gegenseitige Verkehrserziehung, einen positiven Einfluss, die Kinder müssen zwar eine Haupt- und mehrere Nebenstraße überqueren, aber überall waren Radwege angelegt. Da hatte es Leon besser, das Gymnasium lag am Markt in der Innenstadt. Dort, von wo jetzt wieder ein Martinshorn erklang und uns an seine unheilvolle Berufung erinnerte.
Hast du noch was anderes zu trinken? Ihre Schuhe hatte Annabelle angelassen, als sie zu mir in die Küche kam.
Ich riss den Kühlschrank auf.
Täglich wischte ich den Fußboden, Simon befand sich im Krabbelalter, kein Krümel war vor ihm sicher.
Wasser, Apfelschorle?
Annabelle war so latent ruhig, aber in ihr brodelte es wie in einem Vulkan, dass konnte ich ihr ansehen. Kurz vor dem Ausbruch. Sie konnte unglaublich aufdrehen, ein Quirl sein, aber ihre typischste Eigenschaft war Faulheit gepaart mit Egoismus. Bei ihren letzten Elternabenden und Einsätzen glänzte sie durch Abwesenheit. Als Elternvertreterin nahm ich überall teil, selbst an unserer Klassenzimmerrenovierung. Simon wurde gerade ein halbes Jahr alt, aber ein Fehlen erschien mir unmöglich, zumal ich die Aktion ins Leben gerufen hatte. Für mehr Farbe! Rüdiger hatte seinen ganzen Dienstplan komplett umstellen müssen.
Hast du auch Cognac? Cola mit Rum oder Batida de coco?
Ich schaute kurz nach Simon, er schlief noch friedlich in seinem Bettchen. Aus dem Wohnzimmer holte ich eine Flasche, schenkte uns auf der Terrasse Kaffee und Annabella noch Whisky ein. Der Lärm ist der Ferne klang immer noch zornig, schwoll aber ab. Es befand sich nichts anderes im Hause, Alkohol killen wir nur langsam, außerdem schmeckte mir das edle Gesöff mit seiner 3jährigen eichenfassgereiften Lagerung nicht. Wie flüssige Salami.
Lutz schon da?
Neee!
Ich wollte ihr Zeit lassen, ihr Pony wies einen akkuraten Schnitt auf, vielleicht eine Idee zu lang. Die Haare wirkten wie mit dem Glätteisen malträtiert, sie sah wirklich nicht wie 34 Jahre aus. Neidisch blickte ich verstohlen in die Scheiben der Terrassentür. Mir sah man das überarbeitetet Muttertier, mein Übergewicht und das Fehlen von ausreichendem Schlaf, Kosmetikterminen und Lottogewinnen an. Der Frisör an der Wensickendorfer Chaussee war Annabells zweites Zuhause, alle 14 Tage kehrte sie dort ein. Theoretisch auch heute.
Warum kam Lena nicht? Sie hätte schon längst da sein müssen!
Mein Blick schweifte über den kleinen Garten und blieb an der lilafarbenen Knautschzone hängen. Sogar die Fahrertür hatte etwas abbekommen.
Na, wie hast Du denn die Beule reingezaubert?
Annabelle umfasste vorsichtig mit ihren künstlichen Fingernägeln den Kaffeepott. Ich blickte in den Garten, der Sonnenhut blühte immer noch wunderschön und die Cosmeen schienen sich im warmen Sonnenlicht wohlzufühlen. Ich hörte aus ihrer Richtung ein hartes Schlucken.
Zu schnell in der Kurve. Beethovenstraße. murmelte sie. Die Beethovenstraße lag auf dem Weg zur Grundschule bzw. von der Schule. Dort? Die kleinen Poller auf dem Markt, DAS hätte ich verstanden. Ich hatte mal einen beim Ausparken übersehen, die Parkflächen befanden sich neben dem Bushaltebereich. Annabelle schenkte sich nach und kippte den Whisky runter. Markierungssteine, hauchte sie. Es war ein raues Flüstern, wie das leichte Wiegen der Blütenköpfe in einer lauen Brise. Oder wie das blanke Entsetzen der Fliege im Spinnennetz. Ich fuhr mir durch meine kurzen, aschblonden Haare. Beethovenstraße! Der Fleck auf Rüdigers Hemd war nicht rausgegangen, stellte ich beim Blick auf die Wäscheleine fest. Das war doch eine Tempo-30-Zone! Dabei hatte ich den Fleck extra vorbehandelt! Ich glaube es einfach nicht! Ich ärgerte mich und leerte den letzten Schluck Milchkaffee. Meine Nachbarin brütete ihre Gedanken aus wie das Rotkehlchen einst seine Eier in der Hecke.
Ach Verdammt!
Mitfühlend hob ich die Kaffeeglaskanne und bot ihr Nachschub an. Aber das kann man doch reparieren.
Verständnislos blickte sie mich an. Reparieren? Im Krankenhaus?
Na, den Kotflügel in der Werkstatt.
Ach so, dass! Ich hatte eh einen Kratzer drin. Kein Problem.
Du hast Cheyenne von der Schule mit dem Auto abgeholt, warum? Beide Kinder waren heute Morgen mit dem Fahrrad losgefahren. Wo Lena nur blieb? Und warum verspätet sich Rüdiger? Hat er einen Einsatz? Mir war unwohl bei dem Gedanken, dass Lena allein zurückfuhr. Leon hatte heute eine Freistunde im Gymnasium gehabt und war trotz Bibliotheksbesuch eher gekommen.
Hoffentlich ist sie vorsichtig im Straßenverkehr! Es passiert so viel heutzutage.
Schweigen.
Stand Annabelle noch unter Schock? Es musste doch etwas vorgefallen sein! War sie benebelt?
Musst Du noch mal los?, fragte ich vorsichtig.
Nein. Wieso?
Dein Auto steht bei uns.
Was? Ihr Ton und Blick war zerbrechlich wie Porzellan, ein Äderchen war in ihrem linken Auge geplatzt und grüßte mich arrogant oberhalb des Unterlides. Annabelle sah mich kalt an, als wäre sie über jedes weitere Wort erhaben. Ich stotterte wieder, ab und zu passiert es mir noch, ein Andenken aus der Kindheit. Lutz würde ein schief geparktes Auto, zumal das seiner Frau und obendrein platziert beim Nachbarn, nicht tolerieren. Er war ein Ordnungsfanatiker, bügelte sogar daheim die Wäsche.
Annabelles Handy klingelte, sie stützte den Kopf in die Hand und sah blöde aus. Germanys lädiertes Topmodel, fiel mir spontan ein. Sei nicht gemein! Aber es tat gut, so zu denken. Ihr Mund stand halb offen, sie hatte auch ohne Lippenstift sinnliche Lippen. Jetzt zog sich ein Spuckefaden von der Ober- zur Unterlippe. Sie ließ es klingeln, das Telefon schrie erbarmungslos um Erlösung. Herzerweichend. Grauenvoll. Vergeblich. Es verstummte, stellte seinen Ton ein wie ein resignierter Hilferufender. Ein Sterbender.
Wie kann man an der Kurve Beethovenstraße in die Markierungssteine fahren? Man muss schon sehr blöd sein oder absichtlich reinfahren. In der Kurve befanden sich außen eine Aufprallschiene, erst dahinter eine Mauer. Die Markierungssteine befanden sich davor auf der rechten Seite. Ich kannte die Stelle gut, habe ich doch Lena und oft auch Cheyenne in den ersten Schuljahren zum Unterricht gebracht und abgeholt. Taxi Mama. Annabelle bedankte sich immerhin jedes Mal und verschwand mit ihrem Smart am Markt in die Gegenrichtung zur Arbeit.
Annabelle saß immer noch, malerisch mit übereinander geschlagenen Beinen, auf der Hollywoodschaukel und zog sich eine Zigarette aus der Schachtel. Ich missbilligte ihre Qualmerei. Unser nachbarschaftliches Verhältnis hatte sich nach der letzten Gartenparty weiter abgekühlt. Von ihrem exotischen Spleen, zu dem Zen-Figuren und Bambus gehörten, ließ sie sich nicht abbringen, wir gruben einen 7 Meter langen Graben von einem halben Meter Tiefe entlang unseres Zaunes für eine Wurzelsperre aus. Lutz hatte nur mit den Schultern gezuckt und den Rasenmäher angeworfen. Jeden Samstag um 7.00 Uhr hatte er bisher den Rasen mit den Bambus-Ausläufern abrasiert.
Mama? Lena schob ihr Kinderfahrrad durch den Garten zum Schuppen.
Endlich! Ihr erhitztes Gesicht schaute wütend aus, ich erhielt ein flüchtiges Küsschen. Sie klang vorwurfsvoll und blickte auf die Nachbarin. Ich musste alleine fahren! Annabelle schwieg.
Cheyenne ist oben in Deinem Zimmer, mein Schatz.
Ich hörte die Treppe im Haus mehrfach poltern, dann verdächtigte Geräusche durstiger Kids aus der Küche.
Lena steckte den Kopf durch die Terrassentür. Dürfen wir Muffin essen? So nannte sie die selbstgebackenen Teigbatzen, die ich heute Morgen hergestellt hatte. Sie sahen unförmig aus, beinhalteten aber einen guten Kern. Wie bei mir.
Bitte, bitte, Mama!
Wir trinken gleich Kaffee, mein Schatz, wenn Papa kommt. Er ist spät dran, entgegnete ich schwach.
Mama, Lena sprach mit vollem Mund, darf Cheyenne am Wochenende bei mir schlafen?
Sofort nickte Annabelle, wie in Trance. Ist okay, kam es brüchig aus ihrem Mund. Ich blickte überrascht auf, aber alle schienen mit Annabelles Antwort zufrieden zu sein und mein Schweigen wurde aufgesaugt von den Wolken des Spätsommers. Ich sah berechnend zur Wäsche. Gedanklich stellte ich mir den Bügelberg vor, am Wochenende wollten meine Eltern zu Besuch kommen, das Bügelbrett befand sich allerdings im Gästezimmer und lauerte auf meinen Einsatz.
Mama, ich glaube, Simon ist wach.
Ich komme! Annabelle machte keine Anstalten nach Hause zu gehen, ich ließ sie allein auf der Terrasse zurück und trat ins Haus, in der Küche berichtete Lena mir entrüstet, dass Annabelle Cheyenne aus der Hortzeit genommen hatte. Noch während der Hausaufgabenzeit! Ich nickte, diese Zeitspanne war quasi tabu.
Dabei waren wir noch gar nicht fertig. Cheyenne musste sich fürchterlich beeilen,
ihre Mama hat ihre Buntstifte und Hefte einfach in die Mappe gekippt! Und ich musste allein zurückfahren. Sie biss in die Apfelstücke, die ich ihr zurechtgestellt hatte.
Zwei Polizeiautos fuhren an mir vorbei, aber ich bin ordentlich gefahren!
Brav, meine Kleine!
Endlich kam Rüdiger. Ich hörte den Diesel brummen, holte Simon aus seinem Bettchen, ging mit ihm hinaus und meinem Ehemann entgegen. Er trug noch seine Dienstuniform.
Stau. Riesenauflauf in der Innenstadt. Die haben alles dichtgemacht um den Markt herum. Ich musste ewig warten und einen Umweg fahren.
Einen Kuss für Simon und mich, dann steuerte er auf Annabelle zu. Ich schwenkte Klein-Simon über den Rasen und überprüfte die Wäsche. Hatte Cheyenne nicht gesagt, dass das Auto bereits demoliert war, als sie abgeholt wurde? Die dünnen Leinen-Gardinen waren bereits schon trocken. Simon lachte und griff nach meiner Nase. Seine Windel stank entsetzlich, ganz anders als die Wildrosen, ich begab mich ins Haus, von dort vernahm ich lautstarke Worte.
Rüdiger redete auf Annabelle ein. Die Wickelkommode stand nahe beim Fenster, ich legte Simon eine Baumwollwindel um den Po. Annabelle war wortkarg, untypisch für sie. Sonst ließ sie einen nicht zu Worte kommen und sich nicht die Butter vom Brot, geschweige den Kaviar vom Toast, nehmen.
Ein Schmetterling hatte sich in der Gardine verfangen, ich nahm Simon auf den Arm und befreite den Tagpfauenauge mit der anderen Hand. Die Sirene eines Polizeiautos erfüllte unsere kleine Straße.
Spielstraße! Das gilt auch für Beamte!, flüsterte ich und küßte Simons Nase, der mich lachend anstrahlte. Im Flur kam mir Leon entgegen. Mein großer Junge! Ich hatte seine neue Mitschülerin letzten Sonnabend gesehen, Selma Lara Brzeckowsky hatte ihre Mutter von der Chorprobe abgeholt, sie erschien mir groß und schmal in dem dunklen Kleid, ihre Mutter klein und zierlich. Ein schönes Bild mit der Kirche und den Linden im Hintergrund.
Simon patschte mir in den Ausschnitt, vorsichtig ging ich mit ihm auf dem Arm die Treppe hinunter in den Garten. Der Garten war verwaist. Wo waren denn alle geblieben?
Wir hatten uns immer drei Kinder gewünscht, erst mit meinem Wechsel zum Halbtagsjob wurde ich wieder schwanger. Mit 39. Leon war schon groß, fast 18 und Lena wurde im Sommer 10 Jahre. Selma Lara hatte auch im August Geburtstag, fiel mir ein.
Sie hatte so ruhig und gereift gewirkt, nicht so wie aufgezogenen Teenager, ihre dunklen Haare, schlicht zum Pferdeschwanz gebunden, umrahmten ein schönes Gesicht.
Stand Annabelle unter Schock? Würde ihr Ehemann ausrasten wegen der Beule? Was war hier los? Warum hatte Rüdiger vorhin so auf Annabelle eingeredet?
Der Garten war leer, nur die Blütenfülle grüßte mich schweigend, als schwelgte sie selbst in Ruhe und Farbenpracht. Mein Sohn hat sich verliebt! Ich nahm das Lächeln der Blumen in mich auf und freute mich für Leon. Und auf Selma. Morgen würde ich sie kennenlernen.
Die Stimmen hörte ich wieder, sie kamen aus der Nähe der Autos. Annabelle hatte sich in eine Furie verwandelt, ihre schwarz getönten Haare schwangen bei jeder Bewegungen hin und her, mit den Händen gestikulierte sie. Ich steuerte langsam auf sie zu, sie diskutierte immer noch mit Rüdiger und deutete auf die demolierte Schnauze ihres Viertakters. Simon wollte krabbeln und greinte, ich ging zurück und setzte ihn ins Ställchen auf der Terrasse ab. Es wurde Zeit für Kaffee und Kuchen, ich rief die Kinder.
Warum hatte Annabelle Cheyenne mit dem Auto abgeholt, wenn die Mädels doch zusammen mit dem Rad zur Schule fuhren? Rüdiger und Annabelle näherten sich wieder der Terrasse und nahmen schweigend Platz, ich beschloss, für das Abendbrot keinen Reis zu kochen, wir hatten noch Aufschnitt da, aber einen frischen Salat wollte ich zubereiten. Die Schule anzusteuern bedeutete für Annabelle einen Umweg, kam sie doch aus einer anderen Richtung. Von der Arbeit fuhr sie über den Markt nach Hause, die Beethovenstraße lag gar nicht auf ihrer Strecke. Das Ruhige, Versteinerte war wieder in Annabelles Körper eingekehrt, ihre Gesichtszüge wirkten abweisend. Überheblich. Ich konnte sogar auf frische Kräuter aus dem Garten zurückgreifen, vor 3 Jahren hatte ich einen Kräutergarten
angelegt.
Was war passiert? Ausdruckslos, als fehlte jede Verbindung. Wortlos zog Annabelle ihr Handy wieder aus der Tasche und spielte damit.
Hast du dich verletzt beim … Rumsen? Krachen? Blöde Autofahren? … Verkehrsunfall? Soll ich einen Arzt rufen? Oder Lutz?
Sie schüttelte heftig den Kopf, immerhin hatte sie mich verstanden. Die Kinder tobten im Garten und trampelten über meine Kürbispflanzen. Gott sei Dank nur Blechschaden, der Airbag war nicht einmal zum Einsatz gekommen, wie ich gesehen hatte. Hast du Lutz informiert?
Nein.
Cheyenne rupft von einer Cosmeenblüte die Blütenblätter ab, die Mädels kicherten.
Alles in Ordnung mit Dir, Annabelle?
Vielleicht. Mit mir … schon. Aber die …
Ihre dunklen Augen sahen mich strafend an, als hätte ich ihrem Schmollmund zu viel der Worte entlockt. Sie hatte einen dreifachen Whisky intus, sie vertrug eine ganze Menge, das hatte ich an ihrem letzten Geburtstag feststellen müssen. Um Mitternacht und nach einer halben Flache Grappa machte sie Rüdiger an und posierte anschließend in ihrem Swimmingpool. Wir gingen und hörten hinter uns die Lacher.
Aus dem störrisch – verängstigten Blick in ihrem inneren Augenwinkel wurde ein seicht-undurchdringliches Grau. Als schien sie langsam zu begreifen, taute sie auf.
Haste den Werbeprospekt für nächste Woche schon gesehen? Da gibt diese Solar-Dinger, für Draußen. Mit Tiermotiven. Die Pinke gefällt mir.
Pinkfarben! Deutsch war schon immer mein Lieblingsfach gewesen. Bei Annabelle, vermutete ich, muss es sich auf Disco, Jungs und Schminken bezogen haben. Sie tippte Rüdiger mit der Schuhspitze gegen das Hosenbein.
Na, Herr Nachbar? Kommste am Wochenende mit? Lutz und Kumpel wollen zum Angeln raus zum Trötendorfer See. Mit Zelt.
Rüdiger trank schweigend seinen Kaffe und schüttelte nur seinen Kopf. Ich holte Simon aus dem Ställchen und fütterte ihn mit Brei, er war ein guter Esser, trotzdem verteilten sich dickgelbige Klumpen auf mein Kleid, als ob sich die Blumenwiese erbrochen hätte. Rüdiger schaute müde aus, seit 4.00 Uhr war er auf den Beinen. Er hatte die Ellenbogen aufstützt, im Schatten wirkte sein Gesicht grau. Annabelle kratze an ihren langen künstlichen Fingernägeln, die Spitze zierten kleine Strasssteine. Geschmückte Waffen. Sie bequemte sich nicht zu gehen, als hätte sie kein Zuhause. Ich beschloss, morgen für Leons Zimmer einen Blumenstrauß zu binden, der Optik wegen.
Für Selma Lara. Und heute Abend backe ich noch einen Marmorkuchen.
Schwerfällig erhob ich mich. Um halb 6 beginne ich aber mit der
Abendbrotvorbereitung! Wir könnten auf der Terrasse essen. Mit oder ohne Annabelle.
In dem Augenblick, als zwei Polizeiautos in unserer Straße parkten, kam Lutz außer Puste angelaufen. Sein Gesicht war hochrot, sein Brustkorb bewegte sich heftig. Trotz seines wöchentlichen Fitnesstrainings in der Mucki-Bude wirkte er geschafft. War er die ganze Strecke von seiner Arbeit bis hier her gelaufen? Das waren knappe 4 km! Die Polizisten stiegen aus. Warum kam er nicht mit dem Auto? War die Innenstadt immer noch abgesperrt, wie Rüdiger erzählt hatte? Von der Terrasse, ich räumte gerade die Tassen ab, sah ich sie Annabelles Haus ansteuern.
Zeitungsreport.
Zu Verhandlungsbeginn verlas der Rechtanwalt der Angeklagten eine Erklärung. Seine Mandantin gestand, am 17.September gegen 13.43 Uhr mit überhöhter Geschwindigkeit im Innenstadt-Bereich an der Bushaltestelle der Linie 123 die 17 jährige Selma Lara B. beim Straßenwechsel übersehen und erfasst zu haben. Annabelle R. beging Fahrerflucht, sie versuchte, die Tat durch weitere absichtliche Schäden an ihrem Kfz in der Beethovenstraße zu manipulieren und sich anschließend ein zeitnahes Alibi in der 4. Grundschule zu verschaffen.
Die Schülerin erlitt einen Schädelbasisbruch, multiple innere Verletzungen und verstarb noch am Unfallort.
Das Urteil wird für den 3. Verhandlungstag erwartet.
....
Kommt die Atmosphäre rüber?
Der warme Sommertag, träge und die Unruhe, die Ungewissheit?
Könnt ihr Euch die Personen vorstellen?
LG Cecilie