Hallo,
so, nachdem ich gestern drei Stunden damit verbracht habe, meine überarbeitete Version mit Euren Anmerkungen zu den ersten zwei Kapiteln zu finden (und erfolglos aufgeben habe
) kommt jetzt das drittel Kapitel.
Achtung: Ist ein wenig lang, aber ich krieg es nicht unterteilt und zum Rösten trennen will ich es auch nicht.
Fragen kommen am Schluss.
3. HöllenhimmelNicks Laune fiel mit jeder Rakete, die in den Himmel stieg und mit jedem Böller, der durch die Nacht dröhnte. Das neue Jahr kroch auf ihn zu und Elli entfernte sich immer weiter von ihm. Nick kämpfte mit der Entscheidung, einfach zu gehen, sich nur zu betrinken und zu bleiben oder sich zu betrinken und es bei einem anderen Mädchen zu versuchen. Die waren ausnahmsweise einmal in der Überzahl. So recht erwärmen konnte er sich für keine der Möglichkeiten. Er entschied sich für Plan Alkohol, gab den aber dann doch schnell wieder auf. Zwei Bier, mehr ging nicht, dann stieg er um auf Cola und aß dafür umso mehr Chips und Minisalamis, die in rauen Mengen in der Küche lagen. Zwischendrin schlich er von Zimmer zu Zimmer, unruhig wie eine Stubenfliege, und stellte fest, dass André der letzte war, mit dem er in diesem Jahr ein Wort gewechselt hatte.
Gegen Mitternacht schwoll der Kampflärm der Pyrosoldaten zu einem infernalischen Krachen an. Die Lichter im Haus waren ausgeschaltet und die meisten Gäste standen draußen und stießen mit Bier und Sekt auf das neue Jahr an. Über eine halbe Stunde lang hatten die Raketen den Himmel tätowiert. Schließlich trieb die Kälte auch die letzten Feuerwerksfans wieder ins Haus.
„Alles Gute!“, rief Elli zu Nick herüber, prostete ihm erst aus der Ferne zu und kam dann doch auf schnellen Schritten in seine Ecke, drückte einen kurzen, nassen Kuss auf seine Backe und knuffte ihn in die Schulter. Sie flüsterte fast: „Ein unheimlich schönes Neues!“ Bevor er etwas erwidern konnte, war sie auch schon wieder weg. „Dir auch ein schönes Unheimliches“, stammelte er ihr hinterher.
Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, um zu gehen. Das Blöde war nur: Irgendwie wollte er nun doch nicht. Irgendwas hielt ihn fest, und so suchte er für sich selbst nach einer Ausrede, um zu bleiben. Er wollte schauen, ob das mit Alex und Leon wirklich was Ernstes war. Er wollte noch ein Bier trinken oder wenigstens was essen. Er wollte beim Aufräumen helfen. Alles keine wirklichen Gründe. Das hier vielleicht: Er wollte schon immer mal mit der ersten Straßenbahn am Morgen fahren. Ja, das war gut. Die fuhr um 5 Uhr 18, passte also perfekt, um dann ins Bett zu fallen.
Gegen ein Uhr drehte Alexandra die Musik leiser, um halb zwei war das Bier alle und die meisten gingen. Fuhren mit dem Rad durch Nacht oder ließen sich von ihren Eltern abholen, die gerade auf dem Nachhauseweg waren von irgendeiner Senioren-Party. Um zwei gab’s auch keine Cola mehr. Nick zweifelte, ob sich sein Plan mit der ersten Straßenbahn umsetzen ließ. Um halb drei waren außer ihm nur noch fünf Leute da. Die beiden Liebespaare Alexandra und Leon und Elli und André. Und dann noch Christian, der größte Kiffer der Scene. Chris war ein paar Jahre älter, irgendwann mal von der Schule geflogen und hing seit dem überall dort herum, wo es dunkel und warm war. Wenn man was brauchte, so hieß es, dann fragt man Chris. Ich könnte viel brauchen, dachte Nick. Aber nichts von dem kann der mir besorgen. Für die meisten war Chris einer von den Verrückten in der Stadt. Aber, in dieser Stadt waren die Verrückten schon immer glücklicher als die Normalen. Auf jeden Fall sah Chris aus wie einer, der gerade aus dem Kuckucksnest entsprungen war. Die schwarzen Haare hingen ihm glatt und strähnig ins Gesicht, hinten hatte er sie zu einem Zopf geflochten. Seine letzte Rasur war Monate her, auch wenn das keinen wirklichen Bart hinterlassen hatte und in seinem Gesicht passierte dauernd etwas. Er zuckte mit den Wangenmuskeln und quetschte die Lippen von links nach rechts, er zwinkerte permanent oder leckte sich mit der Zunge über den Mund. Sie saßen zu sechst auf dem Fußboden in der Küche, vertilgten die letzten Chips und warteten, was das neue Jahr wohl bringen würde.
„Ich hab ne Idee“, quietschte Alexandra, nicht mehr ganz nüchtern und, weil Leon da wohl einen gewissen Entdeckerdrang an den Tag gelegt hatte, auch nicht mehr komplett angezogen. Leon hatte dafür im Gegenzug reichlich von Alex‘ Lippenstift abbekommen. „Ich hab einen tollen Schokoladenkuchen gerettet. Den spendier ich, wenn ihr alle ein wenig beim Aufräumen helft.“
Die Begeisterung war nicht riesig.
„Ich hab ne bessere Idee“, verlautete Chris mit seiner tiefen, dröhnenden Stimme. „Ich mach für euch den Fremdenführer ins neue Jahr. Ich zeig euch was, was ihr noch nie gesehen habt. Ich zeig euch einen Blick in die Zukunft und Vergangenheit zugleich.“
André presst die Luft mit einem Plopp aus seinen Lungen. „Was hast du dann Feines dabei, das wir uns reinpfeifen sollen?“
Chris lachte laut und schlug ihm auf den Schenkel. „No Drugs, no Sex, no Rock’n Roll. Das ist nur was für echte Kerle und Heldinnen. Ein Abenteuer für den Beginn eines fantastischen Jahres. Ihr müsst nur eure Jacken anziehen und mitkommen.“
„Wie? Raus?“ Leon hatte anscheinend keine Lust auf die kalte Nachtluft.
„Bingo, wir machen einen Ausflug auf den Friedhof.“
Warum sie dann aufstanden sind und sich Jacken und Stiefel anzogen, wusste Nick nicht. Auf einmal hielten es alle für eine gute Idee, um drei Uhr morgens am Neujahrstag mit einem Verrückten über den Friedhof zu ziehen. Allerdings: Warum nicht? Es gab auf jeden Fall eine Menge schlechterer Vorschläge, was man um diese Zeit anstellen könnte.
„Sag mal, machst du das professionell?“, erstaunte sich Elli. Sie waren zusammen aus dem Haus über die Straße gelaufen, Chris hatte einen Schlüssel aus der Tasche geholt und das Tor zum Friedhof aufgeschlossen, sie zu einer der größeren Privatgruften geführt, auch diese aufgeschlossen. Nun zog er aus einer Plastiktüte, die er wohl hier selbst platziert hatte, für jeden ein Grablicht.
„Jawohl“, lachte Chris mit seinem Bass, zündete die Kerzen an und verteile sie.
„Also, dann runter mit euch“, befahl er und schob mit einer Leichtigkeit, als wäre es ein Sperrholzbrett, einen Grabstein in der Wand zur Seite. Eine große Öffnung tat sich auf und es schien Nick, als entströme ihr Dunkelheit. So, wie eine Lampe das Licht um sich verbreitete, so verbreitete dieser Eingang Finsternis. Die sechs kleinen Kerzen, welche die Grabkammer bisher erhellten, duckten sich und wurden zu kaum wahrnehmbaren Funken, bereit, sich jederzeit der Dunkelheit zu unterwerfen.
„Du glaubst aber nicht im Ernst, dass ich da runtergehe.“ Alexandra, die die Friedhofstour bisher voll abgefahren fand, machte zwei Schritte rückwärts an den Ausgang der Gruft und Leon kam, nachdem er einen kurzen interessierten Blick in die Tiefe geworfen hat, hinterher. Ist doch was Ernstes mit den beiden, dachte Nick. Den kann ich in der nächsten Zeit also vergessen.
André hatte sich ebenfalls Richtung Ausgang orientiert, aber er zögerte, denn Elli leuchtet mit ihrer Kerze in dieses absonderliche Portal, das sich hier plötzlich aufgetan hatte. Auf einmal wuchs die kleine Flamme auf ihrer Kerze wieder und verbreitet mehr Licht, als man ihr zugetraut hätte. Der Gang war erstaunlich groß und führte wie eine langgezogene Treppe sanft abwärts. Sie schien aus dem Fels gehauen, aber sauber gearbeitet, ganz glatt an den Wänden, trocken und leicht zu begehen.
„Also, ich geh da auch nicht runter“, sage André leise und Nick merkte, wie seine Stimme vor Angst zitterte.
Sehr schön, dachte Nick, der taffe André hat Schiss. Dann zeigen wir ihm mal, wo’s langgeht.
„Hast Recht, das ist nichts für Feiglinge. Du räumst solange die Küche auf und wir schauen uns das hier mal an.“ Er grinste André zu und ging ein paar Schritte in den Gang hinein. Elli kam ohne zu zögern hinterher. André schaute zu den anderen, streckte die Hand dann nach Elli aus und es war nicht sicher, ob er sie da rausziehen wollte oder ihre Hand nehmen, damit er sich sicherer fühlte. Alex und Leon standen immer noch wie angewurzelt außerhalb der Gruft.
„Du kennst den Weg, Chris, also los!“ Nick wollte Bewegung in die Sache bringen. Und er war neugierig. Auf den Mut der anderen und auf seinen eigenen. André nicht. Er riss Elli am Arm nach oben, wollte raus aus dem Gang, raus aus der Gruft und weg von diesem Friedhof. Aber Elli sperrte sich dagegen, um ihr Abenteuer betrogen zu werden. Und oben stand Chris in seinem speckigen schwarzen Ledermantel, verstellte ihm den Weg und stieß ihn schließlich mit einem Fußtritt gegen das Knie zu Boden. André fiel, riss erst Elli und dann auch noch Nick mit.
Einen kurzen Moment lang war da gar nichts. Kein Licht, kein Laut, keine Bewegung. Alle drei Kerzen waren ausgegangen und es war stockdunkel. Nick sog die kalte Luft durch die Zähne ein und versuchte, so den Schmerz zu verarbeiten. Im Fallen hatte sich das flüssige Wachs der Kerze über seine Hand ergossen. Ein paar lange Haare hatten den Weg in seinen Mund gefunden, und der faszinierende Duft von Ellis Parfüm war so nahe bei ihm wie nie vorher. Für einen kurzen Moment vergaß er, warum sie hier auf dem Boden lagen, durcheinander gewürfelt wie Kasperlesfiguren in einer Spielzeugkiste. Seinetwegen hätten sie sogar noch eine Weile so liegenbleiben können. Ellis Kopf lag auf seiner Schulter, ihre Hand spürte er auf seiner Stirn. An das Gewicht von André, der auf seinem Knie lag, würde er sich gewöhnen können.
„Alles in Ordnung?“
„Nichts ist in Ordnung!“ André wälzte sich von seinem Knie herunter und fluchte ununterbrochen. „Verdammt nochmal, Laus, was hast du uns da für eine Scheiße eingebrockt?“
Nick sagte nichts, entschied sich, das Meer der Wohlgerüche zu verlassen und stand vorsichtig auf.
„Hallo!“ Elli rief in die Dunkelheit. Keine Antwort. Dann riefen alle drei: „Chris, du Arsch! Wo bist du?“ „Alex!“ „Leon!“
Nichts. Nicht einmal ein Echo, wie man es eigentlich in so einem Gang erwarten würde.
„Ich ruf die Bullen an“, André holte sein iPhone aus der Tasche und fluchte gleich wieder. „Kein Netz! Los, probiert ihr mal.“
„Nichts“, sagte Elli.
„Auch nichts“, sagte Nick. „Hat niemand ein Feuerzeug?“
André unterbrach seinen Fluchmonolog. „Doch, wenn ich’s nicht verloren hab.“
Endlich, ein Funke flammte auf, aber André zitterte so stark, dass er die Flamme nicht anbekam. Und als er es noch einmal versuchte, bewegte sich plötzlich der Boden unter ihnen. Nick kam sich vor wie auf seinem Skateboard, Elli stieß einen spitzen Schrei aus, und André ließ das Feuerzeug fallen.
„Ein Erdbeben?“, Elli formulierte die Frage vorsichtig. Zu erschreckend wäre der Gedanke, bei einem Erdbeben in dieser verdammten Höhle zu sein. Sie würden lebendig begraben werden. Wenigstens sind wir schon auf dem Friedhof, dachte Nick.
Der Boden bewegte sich weiter auf und ab, hin und her. Aber nicht nur der Boden, rings um sie herum schien alles in Bewegung zu sein und das leichte Grollen, das sie zunächst umgeben hatte, war angewachsen zu einer infernalischen Lärmkulisse. Es knirschte und donnerte, es knallte und schrillte. Als würden riesige Bäume am Stück ausgerissen, als würden Felsen gegeneinander geschleudert und Berge über das Land gezogen. Dann ebbte der Lärm so schnell ab wie er gekommen war. Nur etwas heulte wie eine Sirene. Nicht von fern, ganz nah bei ihnen. André lag auf dem Boden und Nick stieß ihn mit dem Fuß an – die Sirene verstummte.
„Das Feuerzeug“, stammelte er. „Es ist weg.“
Alle drei krochen über den Boden, tasteten in der Dunkelheit, panisch wie Ertrinkende, die im Meer nach einem Stück Holz suchten. Als die Hände längst gefühllos waren, dreckig und aufgerissen von der blinden Suche auf dem Erdboden, stellten sie fest, dass nicht nur das Feuerzeug weg war, sondern auch keiner mehr seine Kerze hatte. Sie setzten sich auf den Boden, Rücken an Rücken, ein Dreigestirn aus Angst, Verzweiflung und Ratlosigkeit, den Kopf auf den Knien und das Herz auch irgendwo in dieser Region.
„Vielleicht kommt der Mond ja noch, dann sehen wir ein wenig was“, Elli hatte auf jeden Fall ihren Mut noch nicht verloren.
„Der Mond. Wie sollen wir hier den Mond zu sehen bekommen? Wir sind in einer Gruft.“ Andrés zog die Nase hoch und Nick vermutete, dass er geheult hatte. Bloß nicht daran denken, sonst fang ich auch an. Resignation macht kein Licht, philosophierte Nick für sich selbst.
„So, wie wir die Sterne sehen können“, erwiderte Elli trotzig und reckte den Kopf weit in den Nacken. „Ich seh jedenfalls welche.“
André blickte nicht nach oben. „Wir sind hier in der Hölle, die hat keinen Himmel. Was immer das ist, Sterne sind es nicht.“
1. Bitte nicht mehr über den Titel und die braune Erde nachdenken.
2. Für die, die den ersten, zweiten oder beide Teile kennen: Ist das für schlüssig im Übergang oder zu heftiger Bruch von der „realen Welt“.
3. Könnt ihr Euch in die Friedhofsgruft hineinversetzen?
4. Und in die Gefühlswelt vor allem der drei verbliebenen?
5. Lesefluss insgesamt? Erbsen gerne. Und alles andere.
Danke schon mal.