So, heute lernt ihr Dan Lehmann kennen, meinen Hauptprotagonisten in Die Stipendiaten.
Bin gespannt, wie er bei Euch ankommt.
Viel Freude beim Lesen!
LH 420 Frankfurt - San Francisco,
24. August 2021
Kein Leben verläuft linear, Leben folgt keinem Programm, es gibt keinen Algorithmus, das wusste er aus Erfahrung. Jede Eizelle war Beleg für das exponentielle Wunder des Lebens, lange bevor sie befruchtet wurde. In der Nacht, in der Dan Lehmann geboren wurde, betrat der erste Mensch den Mond. Seit Jahren schickten die Stipendiaten Satelliten gen Himmel, um in aller Stille irdisches Leben optimieren und Wohlstand zu mehren.
„Cabin doors closed“ klang es vertraut aus dem Bordlautsprecher über ihm. Daniel, der seit Jahren von allen Dan genannt wird, ließ sich entspannt in den extra breiten Sitz 10B der Lufthansa Business-Class zurückgleiten. Jedes Mal, wenn die Kabinentüren eines Flugzeugs geschlossen wurden, überkam ihn dieses unwiderstehliche Gefühl von Freiheit. Dan spürte wieder dieses ersehnte Prickeln, genau wie damals.
In einem Flugzeug hatte sein Leben begonnen, und zwar im Sommer 1990. In einer Boeing 747, genauer gesagt, sein neues Leben. Es war, wie heute, sein erster Flug, von Frankfurt am Main nach San Francisco. Eine doppelte Premiere für ihn, denn zuvor kannte Daniel nur Frankfurt an der Oder. Er war gerade 21 geworden, Jahrgang 69, genau wie der riesige Clipper, in dem er die nächsten 12 Stunden verbringen würde. Jumbo wurde zum Spitznamen für diese Königin der Lüfte, damals das größte Passagierflugzeug der Welt. Fast zärtlich nannten die Leute diese Flugmaschine wie die riesige Elefantendame bei Disney. Jedoch nie ohne die der modernsten Technik geschuldete Ehrfurcht. Neben der Spannweite von fast 60 Metern beeindruckte den republikflüchtigen Nachwuchsingenieur, der nie zuvor ein Flugzeug betreten hatte, auch der überwältigende Luxus, mit dem die Passagiere in der Lufthansa Business Klasse schon vor Beginn des Fluges verwöhnt wurden. Der süßliche Duft von Ledersesseln und Gummireifen, Plastikverkleidung und Aluminium sowie die Geruchssynthese von Kerosindämpfen und Schweiß, mischten sich mit außergewöhnlichen Parfümnoten der Crewmitglieder, männlich wie weiblich. Der Menschheitstraum vom Fliegen mit dem olfaktorischen Hauch von Freiheit und Abenteuer, den Dan nie vergessen würde. Seit seiner Kindheit wollte er fliegen, um die Welt und bis ins All, am liebsten sofort. Frisch im Premium Segment der Lufthansa gelandet fühlte er sich auf der Überholspur des Lebens. Unvorstellbar, wohin diese Freiheit ihn führen würde, er war zu allem bereit. Romy würde es verstehen.
Mit professioneller Gelassenheit erklang die blonde Lautsprecherstimme erneut „Please fold up the tray tables in front of you and bring your seat into an upright position“.
Dan, als Daniel Lehmann in Dresden geboren, hatte in den letzten drei Monaten fast nur Deutsch gesprochen, nicht anders als vor seinem Jungfernflug ab Frankfurt vor über 30 Jahren. Diese eindrückliche Erinnerung machte ihm bewusst, dass er inzwischen automatisch den englischen Anweisungen der Stewardess folgte anstelle den deutschen. Nicht das Schulenglisch der markentypisch kostümiert und moderat geschminkten Flugbegleiterinnen, sondern das forsche Idiom der kalifornischen Küste war für ihn faktisch zur Heimatsprache geworden. Ein Arbeitswerkzeug, das er ebenso perfekt beherrschte wie alles, was er in seinem Leben begonnen hatte. Nach dem erfolgreichen Masterabschluss in Stanford, selbstverständlich mit Prädikat, wurde promoviert in Informatik und hatte mit seiner Kommilitonin Lin eine Familie gegründet.
Seine Eltern hatten mit Verzögerung von seinem neuen Leben erfahren. Anton saß auf Platz 10A, direkt neben ihm. Sein Ältester war im Juli vierundzwanzig geworden und nach Deutschland gekommen, um mit seinem Dad dessen alte Heimat zu erkunden. Der Junge hatte seinen Abschluss in Umweltwissenschaften gemacht und Dan wollte die Zeit mit ihm nutzen, um eine vernachlässigte Vater-Sohn Beziehung zu stärken. Gab es Grenzen der digitalen Optimierung? Wer eicht die Maßstäbe für Gut und Böse, fragte sich angesichts der revolvierenden Diskussionen mit seinem Sohn. Wieviel war genug? Gemeinsam hatten sie zwei Wochen die dynamische Dauerbaustelle Berlin erforscht, und zum Abschluss Antons Großvater besucht. Der Besuch im ehemaligen Pfarrhaus in Moritzburg war wie erwartet verlaufen, schwierig, eine Scheißaktion nannte es Anton.
Seit er in die USA gezogen war lebte Dan im Epizentrum des Silicon Valley, so wie die meisten der Stipendiaten. In Palo Alto. Ohne Ellens Entschlossenheit, das war Dan klar, hätten sie es nie geschafft. Ellen Eberlein war Anfang 2000 von der Ostküste in die Bay Area gestoßen und CEO von NetSpace Enterprises.
Schon im Bootcamp war Ellen seine engste Vertraute geworden. Es gibt Phasen, da verdichtet sich das Leben eines Menschen wie Kaffeepulver in einer Espressomaschine, bevor es heiß aufgebrüht wird und die Bohnen den Wasserdampf in ein bitteres Kultgetränk umwandeln, das anschließend überzuckert genossen wird. Ereignisse, die binnen weniger Tage oder Wochen, dein Leben in eine andere Umlaufbahn katapultieren. Zumeist lautlos, aber irreversibel und erst im Rückspiegel als Zäsur erkennbar. Waren es die Umstände oder besondere Begegnungen, die so gravierende Weichenstellungen der Lebenswirklichkeit bewirkten, bewusste Entscheidungen oder einfach nur Zufall, fragte er sich. Danach führt dein Leben in eine andere Zukunft, egal ob mit Milch oder Zucker, abgestanden oder brühfrisch. Dan hatte das erlebt und spürte, wie das Gefühl einer disruptiven Umwälzung seines gewohnten Lebens wiederkehrte.
Als Ingenieur wusste Daniel Lehmann, dass der Jumbo von Boeing zu den sichersten Verkehrsflugzeugen seiner Generation zählte, wenn man von der tödlichen Katastrophe auf der Landebahn in Teneriffa 1977 und dem Schicksal des Clippers Maid of the Seas im letzten Winter absah. Auf dem Linienflug Pan Am 103 von Frankfurt über London-Heathrow nach New York JFK waren drei Tage vor Weihnachten alle Passagiere und die gesamte Crew der Pan American World Airways Maschine vom Typ Boeing 747-121 ums Leben gekommen, insgesamt 270 Tote. Ihr Massengrab im schottischen Galloway wurde zu einem globalen Mahnmal für die asymmetrische Bedrohung der sogenannten zivilisierten Welt. Etwa 400 Gramm Plastiksprengstoff machten den Name Lockerbie zum Synonym dafür, dass destruktive Mächte ihre Opfer jederzeit und überall auf diese Planeten erreichen konnten. Auch wenn Bomben und Raketen im digitalen Zeitalter zu den gröberen, inzwischen selten verwendeten, Instrumenten zählten. Diese letalen Werkzeuge einzusetzen war weniger effektiv und barg nach Daniels Meinung wesentlich höhere Risiken. Als Physiker war er mit Wahrscheinlichkeiten und Schadensbewertungen von Risiken bestens vertraut. Es ist wie mit dem Regen, zu wissen, dass es sehr wahrscheinlich regnen wird, ist eine Sache, aber die Frage wie stark und lang der Regen sein wird, ist letztlich die entscheidende, die in der Wissenschaft als Impact-Stärke gemessen wird. Die jüngsten Ereignisse in der DDR, seinem Teil-Deutschland, waren mehr als unwahrscheinlich gewesen. Weder hätte die friedensbewegten Demonstranten gegen den Atomkrieg, egal ob in Ost- oder Westdeutschland auf einen friedlichen Fall der Berliner Mauer zu ihren Lebzeiten gewettet noch die Stockholmer SIPRI Experten die Chancen dafür mit höher als 5 % bewertet. Ganz unmöglich war so etwas nie, aber undenkbar, zumindest im Vorhinein. Surreal wirkte dagegen mit welcher lawinenartigen Intensität dieses so unwahrscheinliche Ereignis die Realität für Millionen von Deutschen in den letzten Monaten nichtsdestotrotz völlig umgekrempelt hatte. Impact, bezeichnete die Wirkmächtigkeit seltener Ereignisse, wie Störfälle in Kernkraftwerken, die Explosion eines Raumschiffs oder die Begegnung mit Außerirdischen, unvorhersehbare Großereignisse der Menschheit die positive oder negative Auswirkungen von lokal begrenzter oder globaler Reichweite entwickeln konnten. Der eiserne Vorhang war zerrissen, eine unerwartete Osterwende im deutsch-deutschen November. Nutzen oder Schaden dieses geopolitischen Erdbebens in Berlin konnte im August 1990 niemand seriös abschätzen. Die jeweilige Perspektive bestimmte zudem die subjektiven Vorzeichen dieser höchst individuellen Bewertung. Onkel Martin hatte ihn sehr ermutig dieses Stanford-Stipendium anzunehmen.
Daniel schaute rüber zu Karl-Heinz, den er aus dem Physikstudium an der TU-Dresden kannte, der hinter ihm in Reihe 14 seinem Platz am Gang eingenommen hatte. Ellen und Suzanne hatten nebeneinander in der Mittelreihe mit vier Sitzen, ihre Plätze gefunden und sich ausgestreckt. Erich saß zwei Reihen hinter Maria auf der rechten Flanke des Riesenvogels. Der Stasi-General a.D., Vogel, hatte ihnen eingeschärft mit niemandem über Ziel und Zweck ihrer wichtigen Mission zu sprechen. Sie sollten getrennt reisen wie Fremde und durften während des Fluges keinen Kontakt zueinander aufzunehmen. Diese letzte Vogel-Doktrin wirkte geradezu lächerlich, da die jungen Ingenieure ausgestattet mit original Westdeutschen Pässen legal unter ihren Klarnamen reisten und aus den 60 Passagieren, die auf diesem Flug Business-Class gebucht hatten, aufgrund ihres Alters und der untypischen Kleidung so hervorstachen wie Walraffspatzen aus Köln in einer Papageien-Voliere im Park von Sanssouci. In der letzten Reihe der mittelgroße Mann im karierten Einheitsanzug und runder Metallbrille stach unter den Mitreisenden hervor und wirkte ebenso mal place wie er selbst. Wahrscheinlich ein Stasi-Agent, der Beobachten sollte, ob die flügge gewordenen Stipendiaten Vogels letzten Anweisungen Folge leisteten. Genauso fehl am Platz wie die Stipendiaten über den Wolken fühlten sich mit ihrer neugewonnenen Reisefreiheit am Boden Millionen seiner entfesselten Landsleute, die in eigenhändig gepflegten Wartburgs und Trabis gleichermaßen stolz wie unsicher entschlossen, den entgrenzten Westen eroberten, ausgestattet mit Begrüßungsgeld, Bettzeug und Bananen. Während in Berlin die Tinte auf dem Einigungsvertrag trocknete, reifte in Daniel der Entschluss, mit dem Verlassen der Deutschen Demokratischen Republik, auch die staatsbürgerliche Fügsamkeit hinter sich zu lassen, die im elterlichen Pfarrhaus mehr belächelte als gefördert wurde, und endgültig mit der systemimmanente Befehlskette der entsetzten Ostzone zu brechen.
Die elektronische Botschaft, die Dan gestern Abend von Eric auf seinem Langwellenpager erreicht hatte war verschlüsselt, aber eindeutig gewesen. Er müsse umgehend zurückkommen. Am nächsten Montag sei für ein Krisen-Meeting des Vorstandes seine Anwesenheit im Headquarter von NetSpace Enterprises unverzichtbar. Mit dem ironischen Programmiergruß SNAFU unterstrich der Absender lässig die gefühlte Dringlichkeit. Typisch für Erich von Arnim, wie sein Mitstipendiat bürgerlich hieß. Die DDR hatte ihre Adligen zwar entjunkert, aber als nützliches Mitglied der neuen Gesellschaft war jeder willkommen. Erics Eltern hatten sich als Parteigenossen für den Sozialismus eingesetzt. Genau wie jetzt hatte Eric ihm die Krisenmeldung beim Projekt Blue Chip geschickt, kurz vor dem gescheiterten IPO. In zwei Wochen wäre er pünktlich zum Firmenjubiläum zurück in Kalifornien gewesen. Der Zeitpunkt war überraschend, aber gänzlich unerwartet kam dieser Notruf von Eric nicht. Dank seines Senatoren-Status konnte Dan ihre Tickets trotz Corona anstandslos auf diesen früheren Flug umbuchen.
Dan nahm den perlenden Begrüßungsdrink, französischer Champagner, kein Sekt, von der Wurzelholzablage mit Pfauenaugen in der breiten Mittelarmlehne und prüfte, ob er angeschnallt war und sich sein neues iPhone ordnungsgemäß im Flugmodus befand. Er blickte auf seine Lange & Söhne No. 1, die er im Hotel in Dresden für den Preis eines Kleinwagens erworben hatte. Die Flugzeit nach San Francisco heute würde Non-Stop rund 12 Stunden betragen. Seinem Sohn hatte er eine Apple Watch geschenkt, er würde den analogen Langezeitmesser erben. Wie wichtig die Angelegenheit wirklich war, würde er nach der Landung erfahren. Er hatte einen halben Tag an Bord, um sich vorzubereiten. Aus Erfahrung wusste Dan, die Welt konnte sich in wenigen Stunden völlig verändern, richtig vorbereitet war man darauf nie.
Fliegen war für ihn als High-Tech Unternehmer zu einer notwendigen Routine geworden, jede Fahrt mit dem betagten Cable Car in San Francisco bot mehr Abwechslung. Ausnahmsweise saß heute Anton auf dem Fensterplatz neben ihm. „Auf die Zukunft, Anton“, prostete er seinem Sohn zu und leerte das Glas in einem entschlossenen Zug. Die prickelnde Witwe aus Reims würde ihm an Bord noch öfter beistehen. Eine besondere Zeit der Vater-Sohn Begegnung lag hinter ihnen, genaugenommen eine Begegnung über drei Generationen hinweg, und sie waren sich nähergekommen, auch wenn Reden für Männer nicht immer einfach war. Anton konnte schweigen, aber seine stahlblauen Augen verrieten wie ein Vergrößerungsglas seine intensiven Gedanken. Den IQ von 140 und die glatten pechschwarzen Haare hatte er von seiner Mutter Lin, die faktisch alleinerziehend gewesen war. Nach beruflich intensiven Jahren mit NetSpace als Priorität, in denen Dan wenig zuhause gewesen war, hatten die Lehmänner vorsichtig angefangen wieder miteinander zu reden. Es gab noch so viel zu entdecken.
„We wish you a pleasent flight to San Francisco,“ war das letzte, was Dans Hirn erreichte, bevor sein Körper den Schlafentzug der letzten Wochen kompensierte. Alkohol war für ihn ein treuer Gefährte, allerdings kein Risiko. Da war Dan sich sicher.
Nun meine Fragen:
Kapiert der Leser, dass es sich um zwei Flüge mit 30 Jahren Abstand handelt?
Der junge Daniel Lehman nennt sich heue Dan und wird von seinem Sohn Anton begleitet, mit dem er dessen Großvater besucht...
Sind die DDR Retrospektiven glaubwürdig,
Erzeugt die angedeutete Stasi Connection Spannung oder wirkt diese künstlich
(Die Stasi finanzierte 1990 die Stipendien)