Teufelszeug > Theorie
Irrungen und Wirrungen bei der Perspektive
Lionel Eschenbach:
Nope!!
Es gibt immer den Erzähler, der eben nur in verschiedenen Funktionen sich in den Roman einschaltet.
Der auktoriale Erzähler weiß alles, kann in alle Köpfe eindringen, wie er will.
Der personale Erzähler - mehr oder minder - gibt die Geschichten nur aus den Köpfen der Handelnden wieder, er weiß nur, was sie wissen.
Der neutrale Erzähler betrachtet es mehr oder minder nur von oben, gibt wieder, was er hört und sieht. Kommt aber nicht an die Gedanken der Figuren ran.
Der Ich-Erzähler unterliegt noch mehr der Perspektive desjenigen, in den er schlüpft.
Um es hier mal kompliziert auszudrücken, selbst wenn du die Hauptfigur, der in manchen Szenen als Ich-Erzähler auftritt, dann in die Erzählerperspektive wechseln lässt, dann gibt es immer noch den Erzähler, der wiedergibt, was der andere Erzähler gerade sagt, denkt, fühlt, sieht. Denn es gibt immer den Erzähler, der die Geschichte erzählt.
Und das wäre wohl eine neue Kategorie des Erzählers, jenseits von auktorial, personal, neutral und Ich-Form.
Bei dir wäre es so.
Der Erzähler dringt in den Kopf des Ich-Erzählers, sagen wir Kapitel 1.
Wenn dann der Ich-Erzähler zum Erzähler wird, dann ist der andere Erzähler immer noch im Kopf des Erzählers.
Ok, komische Sätze.
Daher muss ja eben der Leser plausibel nachvollziehen können, wie dieser Wechsel möglich ist.
Also, der Ich-Erzähler erlebt irgendwas in seinem Kapitel. Wenn er jetzt zum Erzähler wird, dann könnte es vielleicht so sein.
Der Erzähler macht klar, dass er nun über die Vergangenheit berichtet, was er erlebt hat, was er glaubt, was die anderen gesagt, erlebt und gefühlt haben mochten. Er kommentiert also nur die Vergangenheit und stellt sie szenisch da, und wenn er nicht magische Fähigkeiten hat, wird er nie die Gedanken wiedergeben können!!!
Hier ist es schlicht nicht möglich, das der Ich-Erzähler an die Gedanken der anderen herankommt. Da wäre ich auf deine Erklärung gespannt, wie du das Problem für den Leser auflösen willst.
Und wenn du ganz viel Zeit hast :)
Bauer, Matthias: Romantheorie und Erzählforschung. Eine Einführung. Stuttgart, Metzler Verlag 2005, ISBN: 978-3476020796
Stanzel, Franz K.: Theorie des Erzählens. Stuttgart, UTB 2002, ISBN: 978-3825209049
Vogt, Jochen: Aspekte erzählender Prosa. Eine Einführung in Erzähltechnik und Romantheorie. Stuttgart, UTB 2008, ISBN: 978-3825227616
merin:
Das sehe ich anders, Lionel. Denn wenn ein Roman verschiedene Perspektiven hat, dann hat jede Perspektive ihre:n eigene:n Erzähler:innen. So wie die Bibel auch verschiedene Autor:innen und Erzähler:innen hat.
Und um es noch komplizierter zu machen: Natürlich kann es einen allwissenden Ich-Erzählenden geben. Ich kann mir vorstellen, einen Roman aus der Perspektive von Gott zu schreiben. Oder aus der Perspektive eines Geistes. Ich brauche halt eine Erklärung, warum die erzählende Person das alles weiß, aber so lange die da ist, können auch Ich-Erzähler:innen alles.
Lionel Eschenbach:
Ja, aber es braucht eine Erklärung, oder?
merin:
Kommt drauf an wofür.
--- Zitat ---Der Erzähler dringt in den Kopf des Ich-Erzählers, sagen wir Kapitel 1.
Wenn dann der Ich-Erzähler zum Erzähler wird, dann ist der andere Erzähler immer noch im Kopf des Erzählers.
Ok, komische Sätze.
Daher muss ja eben der Leser plausibel nachvollziehen können, wie dieser Wechsel möglich ist.
--- Ende Zitat ---
Ich glaube, du verwechselst hier Autor:in und Erzähler:in und Perspektivträger:in. Das alles kann identisch sein (im Falle des biografischen Romans), aber es können auch drei verschiedene Figuren sein.
Meistens ist die Autor:in nicht identisch mit Perspektivträger:in oder Erzähler:in. Bei der Ich-Erzählung sind dann Perspektivträger:in und Erzähler:in meist identisch. Nehmen wir an, eine Erzählung ist von zwei Erzählenden berichtet. A und B. Jede dieser virtuellen Personen hat je eine Perspektive und erzählt aus dieser heraus. Dann muss es keine Begründung für den Wechsel geben. Aber der Wechsel ist für Lesende angenehmer, wenn er irgendwie nachvollziehbar ist. Und am besten wird natürlich Person B eingeführt. Muss aber auch nicht sein. Es gibt eine Menge moderne Romane, wo mehrere erstmal völlig separate Stränge mit verschiedenen Perspektivträger:innen beginnen und erst irgendwann zusammenlaufen. Nur wenn sie nie zusammenlaufen, dann frage ich mich als Lesende, wieso mir das beides in einem Roman erzählt wird.
Wobei es auch fragmentarische Formen gibt. Cloud-Atlas als Film fällt mir da ein. Also alles nicht so einfach.
Was mir noch ein Anliegen ist: nolimit, kannst du den Threadtitel bitte so ändern, dass klar wird, dass es um Perspektivfragen geht? Dann können auch andere Interessierte das leichter finden und lesen. Danke.
Lionel Eschenbach:
https://die-schreibtechnikerin.de/literaturwissenschaft-definitionen-modelle/erzaehltheorie/stanzel-typenkreis/
https://wortwuchs.net/fokalisierung/
Im ersten Link steht u.a.
Opposition von Nichtidentität der Seinsbereiche von Erzähler und Figuren und Identität der Seinsbereiche von Erzähler und Figuren
Nichtidentität der Seinsbereiche von Erzähler und Figuren: der Erzähler befindet sich nicht in der Welt der Figuren
Das meinte ich. Erzähler ist nie die Figur, er berichtet nur über sie. Wie kann aber dann die Figur zum Erzähler werden. Das erschließt sich mir noch nicht.
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