Hallo Lionel;
ich packe hier mal meine fortlaufenden Notizen beim Lesen hin, damit du siehst, wie mein Ersteindruck war. Eine kurze Zusammenfassung gibt es am Ende.
Damals, als er hier oben gestanden hatte, blies der Nordwind kalt.
als er schon einmal/das letzte Mal hier gestanden hatte? 'Hier' impliziert ja, dass er eben da steht.
Und eigentlich müsste es 'hatte der Wind geblasen' heißen.
Der erste Absatz lässt mich verwirrt zurück, wer oder was er ist? Er steht, übernachtet/überwintert auf Bäumen, träumt von Fressen. Mensch oder doch Tier?
Auch die Umgebung wechselt, scheint mir: Er steht am Rand eines Felsens und schaut in den Himmel und die Weite. Andererseits ist da eine Lichtung mit Eiche, drumrum müsste also Wald sein. Felsen suggeriert mir 'kahl'. Eichen wachsen nicht auf kargem Boden und in starkem Wind, jedenfalls nicht als große Einzelbäume.
Zehn Jahre war es her. Doch mit der Erinnerung an die eisigen Winden kehrte der Schmerz zurück.
Winde
Das 'doch' als Einleitung passt für mich nicht richtig. Du meinst doch, trotz der langen Zeit ist der Schmerz noch wach, oder? Vielleicht so ähnlich: Doch der Schmerz, den die Erinnerung geweckt hatte, fühlte sich frisch und heiß an wie von gestern?
Er blickte nach unten. Dort unten zwischen den Steinen hatten sie Tarum zurückgelassen, der verletzt gewesen war. Als sie von der Jagd zurückkehrte, fanden sie seinen zerfetzten Kadaver. Im rot gefärbten Schnee waren die Eingeweide bereits geforen. Er ballte die Faust. Tarum war ein guter Wolf gewesen.
zurückkehrten
Da die Identität von 'er' noch unklar ist, irritiert mich die Nennung des Namens ohne weitere Klärung hier auch; ich sehe einen zerfleischten Menschen und frage mich, wieso er allein zurückgelassen wird, oder ein Rudel Tiere, das irgendwovor flieht, und begreife erst im Nachhinein, dass eine Gruppe Jäger einen Wolfshund verliert. Ganz sicher bin ich da aber nicht, und das reißt mich aus der Geschichte, dass ich immer nachsteuern muss.
Vielleicht kannst du deutlich machen, dass er seinem Wolf ein vermeintlich sicheres Lager gebaut hat oder so, ihn verbunden hat, versucht hat, bei ihm zu bleiben, aber nicht durfte...
Als sie von der Jagd zurückkehrte, fanden sie seinen zerfetzten Kadaver. Im rot gefärbten Schnee waren die Eingeweide bereits geforen.
gefroren
Mach mehr Bild daraus: Blutspuren im Schnee schon etwas entfernt lassen ihn Fürchterliches ahnen, das zerwühlte Lager, die verteilten Reste (Eingeweide fressen Raubtiere als erstes)... brennen sich in ihn ein... So, dass er es eben 10 Jahre lang nicht verwindet.
Die geballte Faust scheint mir schon zu Anfang der Erinnerung sinnvoll als Ausdruck seines Hasses.
Sie aber hatte aus Lust getötet.
Woher weiß er das?
Und wenn alle Hunger hatten, dann die Bärin wohl auch.
Er spürte, wie es sie zürnte
erzürnte
Er hätte sie mit einem Gedanken töten können, aber das wäre kein ehrlicher Kampf. Sie sollte wissen, warum sie sterben sollte.
Zwei Argumente werden vermischt: Er will fair sein, aber auch strafen. Vermutlich ist Tod hier als Strafe für Lust am Töten gesetzt. Da wir uns offenbar in der Fantasy befinden (Telepathie), in einer eher mittelalterlichen Welt (Galgen) stellt sich mir die Frage, ob es um seine privaten Wertvorstellungen geht oder um die allgemein gültigen sozialen Regeln. Im echten Mittelalter spielte die Motivlage für ein Verbrechen nämlich keine Rolle. Und die Strafen waren 1. hart, 2. standen im Zusammenhang mit der Tat, nicht aus Grausamkeit oder zur Abschreckung, sondern um das Gleichgewicht wieder in Ordnung zu bringen. Fairness ist ein moderner Gedanke.
Hier scheint das Tier dem Menschen weitgehend gleichgesetzt, mit Bewusstsein begabt, mit Motiv und fähig, moralische Schlüsse zu verstehen. Ist das so oder sieht nur dein Protagonist sie so (sozusagen als Bruder Wolf, Schwester Bärin)?
Er sprang herunter,
Ah, also ist die Lichtung unten.
Den Schwur schrie er in die Nacht. »Niemand tötet, ohne dafür zu zahlen. Für Tarum.«
Finde ich etwas unglaubwürdig, dass er direkt gegenüber einer angreifenden Bärin erstmal den Schwur erneuert. Wieso eigentlich Schwur? Der Satz sagt nur aus, dass er Tarum rächen will. Und ganz logisch ist es in dieser Verkürzung auch nicht, wenn er 1. jagt und 2. die Bärin töten will. Ist er Richter und Henker zugleich?
Das Schwert traf sie am Kopf. Zwei drei schnelle Stiche.
Ein Schwert ist meines Wissens keine Stich-, sondern eine Hiebwaffe, dafür braucht man auch Platz zum Ausholen.
die Klinge bohrte sich in ihre Läufe
hier genauso
außerdem wohl nur in einen Lauf, nicht in zwei gleichzeitig
Er sprang über die Gesteinsbrocken,
Sorry, aber nach einem Hieb von einer Bärentatze ins Bein? Krallen in etwa fingerlang, die Wucht eines schweren, schnellen Tieres dahinter... Das Bein dürfte ziemlich aufgerissen sein, wahrscheinlich bis zum Knochen; da hilft alles Training nichts, Sprünge sind nicht möglich.
Wieder und wieder traf er sie
Das klingt, als würde er einfach irgendwo zuhauen. Als Jäger weiß er aber, wo er sie treffen muss.
Sie sollte sterben, aber nicht leiden.
Das hat er nicht gut angestellt bisher. Und wenn er so denkt, könnte er sie doch per Gedanke töten, wie am Anfang gesagt.
Wie sie stirbt, kriegt man übrigens nicht mit, was ich zwar nicht unbedingt gerne lese, aber als Abschluss gut wäre.
Als er den Lagerplatz erreichte, brannte sein Fußgelenk.
Ein, zwei gehüpfte Schritte, okay, aber den Weg zum Lagerplatz mit gebrochenem Fuß? Ohne Krücke, ohne Ohnmacht - das nehme ich dir nicht ab.
Der Hengst entspannte sich
Was ist mit dem Blutgeruch?
Lionel konnte die Augen kaum noch aufhalten.
Warum nennst du seinen Namen erst jetzt?
Seine Wunden würden verheilt sein, wenn er zurück bei seinen Leuten war
Er hat also besondere Heilkräfte? Die ihn nichts kosten, keine Extra-Energie oder so? Erstens finde ich es schade, wenn Figuren Vorteile haben, die nicht durch Nachteile oder Gefahren ausgeglichen sind, zweitens wäre eine Erklärung nicht schlecht, wie das kommt, und drittens gäbe es weiter vorne durchaus Gelegenheit, seine quasi Unverwundbarkeit anzusprechen. Allerdings nimmt das dem Ganzen etwas die Spannung. Was setzt er denn aufs Spiel in diesem Kampf?
Ich habe nicht mehr alle Erbsen aufgeführt, aber du solltest mal alle Anschlüsse durchgehen - stimmt die Verbform zum Subjekt? Gerade mit Singular/Plural geht es oft durcheinander, vielleicht vertippt.
Insgesamt hinterlässt die Story bei mir den Eindruck, dass Weltenbau fehlt oder zumindest nicht hier rüberkommt. Wer genau und mit welchen besonderen Kräften ist Lionel, wieso ist er der Vollstrecker von Rache an der Bärin für einen Wolf? Welchen Wert hat tierisches Leben in deiner Welt im Verhältnis zu menschlichem? Was legitimiert ihn? Was bindet ihn?
An der Kampfszene würde ich noch arbeiten: Mehr Eindrücke vom Moment, was hört, riecht, fühlt, sieht er? Was genau versucht er und wie, was davon gelingt, was nicht, wo wird es gefährlich (stakes hochsetzen)? Selbst wenn er schnell heilt, könnte zuviel Blutverlust ein Problem sein, oder ein Auge nicht ersetzbar oder oder... Ein bisschen Einsicht in seine Gedanken bringt ihn dem Leser näher.
Ich hoffe, du kannst mit dem ganzen Senf etwas anfangen.
Gruß,
eska