Hallo, in letzter Zeit habe ich zwei Szenen bearbeitet, die recht nah hintereinander kommen. Da viele der Meinung waren, dass ich durch meine Geschichte nur so durchrase, habe ich mir Mühe gegeben und das alles mal auserzählt. ich stelle hier nun mehr oder weniger das komplette erste Kapitel ein. minus der Einleitung und der Strafarbeit, nach der dann das Aufnahmeritual käme.
Mich interessiert:
- kommt für euch die Verbindung zwischen Nick und Wolf greifbar vor oder fehlt euch da was?
- ist für euch der Text entschleunigt?
- wo fehlt was und wo ist was zu viel?
und für diejenigen, die den Abschnitt des Buches schon länger kennen:
- wie entfalten sich für euch die jeweiligen Atmosphären in den einzelnen Textabschnitten, der Wechsel zwischen abends im Wald mit Naleesha und dann irgendwas normales?
- bin ich überall auch nah genug an Nick dran geblieben?
und für die, die den Text zum allerersten Mal lesen:
- ist für euch ersichtlich, warum Nick sich immer wieder mit Naleesha trifft?
so, dann mal viel Spaß beim Lesen und Rösten
- zur optisch besseren Abgrenzung der einzelnen Textabschnitte sind diese wieder mit "***" gekennzeichnet -
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Eigentlich war es eine Nacht wie jede andere. Wie so oft saß ich in klaren Nächten in unserem Garten, lieber allein und nur in Gesellschaft meiner eigenen Gedanken als mich den Anstrengungen der höfischen Gesellschaft auszusetzen. Da gab es diesen großen Stein. Direkt hinter den mannshohen Hecken, die unseren Garten eingrenzten. Nur wenige Meter vom Waldrand entfernt. Dort saß ich auch in dieser Nacht, den Rücken angelehnt an den harten Felsen, schaute hinauf zu dem beeindruckenden Meer der Sterne und bewunderte die funkelnde Unendlichkeit der tiefschwarzen Nacht. Mein dicker Mantel schützte mich vor dem feuchtkalten Boden. Es lag schon lange kein Schnee mehr, doch die Nächte waren noch immer sehr kalt. Ein Geräusch drang durch das Dickicht der Bäume und erregte meine Aufmerksamkeit.
Hm? Bilde ich mir das ein? Da ist doch was im Wald. Es knurrte leise, begleitet von einem Rascheln, das unmöglich von den Wipfeln der Kiefern kommen konnte, die der Wind sanft hin und her wiegte. Von der Neugier getrieben stand ich auf und bewegte mich auf die hohen, dicht beieinander stehenden Bäume zu, die das Mondlicht kalt umflutete. Das Flüstern des Windes begleitete mich und unterstrich die Geräusche des Waldes. Der Boden war dicht bedeckt mit kleinen Zweigen, den Hülsen alter Eicheln und verfaulten, nassen Blättern. Sie knisterten und knackten unter meinen Füßen.
Ich mache zu viel Krach... Ich wählte meine Schritte vorsichtiger, auch ein wenig langsamer, sodass meine Bewegungen beinahe lautlos wurden. Nach wenigen Metern sah ich Brombeersträucher, die sich bewegten. Das Knurren kam von dort. Ich umrundete das dunkle Gestrüpp und blieb wie angefroren stehen. Vor mir stand ein silberner Wolf mit dunklen Augen, die mich fixierten, und knurrte mich an.
Oh nein! Der ist ja… Warum ist er allein? Hektisch sah ich mich nach seinem Rudel um. Dann fiel mir ein, dass schnelle Bewegungen ihn reizen könnten. Ich erstarrte, fürchtete einen Angriff, doch der blieb aus. Warum? Ich maß den Wolf mit meinem Blick. Er stand geduckt da, das Fell gesträubt. Im Mondlicht wirkte es wie flüssiges Silber. Seine Größe überwältigte mich. Er kam mir mindestens bis an die Hüfte. Die Ohren waren aufgestellt. Er bleckte die Zähne. Mein Blick blieb an den riesigen, scharfen Fangzähnen haften. Ich schluckte. Dann wanderte mein Blick hinab zum Boden. Ein Lauf des Wolfes hatte sich in einem Geflecht aus dornigen Ranken und Wurzeln verfangen. Es schmerzte mich, als ich die blutigen Wunden sah. Der Wolf hatte bereits versucht, sich zu befreien. Tränen brannten in meinen Augen. Er tat mir leid und das Verlangen ihm zu helfen wurde stärker. Vorsichtig schob ich meinen Fuß ein paar Zentimeter nach vorne. Der Wolf duckte sich noch tiefer und bedrohlicher. Heute finde ich es seltsam, dass ich nicht weg lief. Stattdessen drehte ich ihm die Handflächen zu. Ich wollte nicht direkt auf den Wolf zugehen - womöglich würde dieser das als Bedrohung wahrnehmen - und bewegte mich ein wenig zur Seite, während ich auf den Wolf einredete.
„Hab keine Angst. Ich werde dir helfen. Ganz ruhig.“
Das Knurren wurde leiser. Es klang jetzt eher misstrauisch als gefährlich. Ich duckte mich ein wenig, zeigte mich unterwürfig. Der Wolf sollte mich nicht als Bedrohung wahrnehmen.
„Ich will dir helfen. Ganz ruhig… Ich bin dein Freund.“
Jetzt hörte das Knurren auf und ich schöpfte ein wenig Zuversicht. Der Wolf wandte den Blick nicht von mir ab. In seinen Augen lag etwas, was ich in dem Moment nicht beschreiben konnte. Sie wirkten traurig, beinahe menschlich. Je länger ich in diese sonderbaren Augen schaute, umso vertrauter wurde dieses Gefühl für mich. Ich schüttelte die Reste meiner Angst ab und legte ihm eine Hand sanft auf den Kopf. Der Wolf zitterte unter meiner Berührung.
„So ist gut... guter Junge. ganz ruhig.“
Der Wolf stieß ein verärgertes Knurren aus. Besorgt trat ich einen Schritt zurück. Hatte ich etwas falsch gemacht? Ich dachte nach. Über seine glänzenden, Augen, seinen schlanken Körper, sein... Oh...
„Ruhig, Mädchen. Lass mich dir helfen.“, sagte ich und wagte einen neuen Versuch, mich ihr zu nähern. Sie ließ es zu. Vorsichtig entfernte ich das Gewirr von Ranken, die sich fest um den Lauf der Wölfin gewickelt hatten. Dann war sie frei. Sie humpelte einige Schritte und ließ sich auf den feuchten, kalten Boden nieder.
Die Wunde macht ihr sicher zu Schaffen. Im Geiste bedankte ich mich bei unserem Lehrer, der uns erst letzte Woche von den heilenden Pflanzen in diesem Wald erzählt hatte.
Wie war das? Valerian zur Beruhigung und Comfrey hilft bei der Heilung... Ich sah mich um. Zum Glück konnte man diese Kräuter überall im Wald finden. Ich pflückte eine Hand voll und zerkaute sie zu einem groben Brei. Damit behandelte ich die Verletzungen der Wölfin. Sie jaulte kurz auf, als die Pflanzen das rohe Fleisch berührten, wehrte sich aber nicht.
Ich brauche einen Verband… ah, moment! Ich zog ein Taschentuch aus meinem Mantel und wickelte es um die Wunde. So, das müsste halten. Danach ließ ich mich auf einen am Boden liegenden Baumstamm nieder. Die Wölfin humpelte zu mir, ihre leuchtenden Augen schauten mich dankbar an. Sie winselte leise und legte mir den Kopf in den Schoß. Ich streichelte eine Weile ihr dichtes, weiches Fell, bis ich laute Rufe hörte. Ich erkannte die Stimme meiner Mutter.
Mist, ich hätte längst zu hause sein müssen. Die Wölfin schaute mir noch einmal in die Augen und verschwand dann zwischen den Bäumen, den verletzten Lauf eng angezogen. Noch bevor ich zu einer Antwort ansetzten konnte, kam Mutter hinter den Büschen hervor.
„Nick! Hier steckst du! Kannst du mir nicht antworten, wenn ich nach dir rufe? Was machst du überhaupt hier? Du sollst dich so spät nicht in diesem unheimlichen Wald herumtreiben. Komm ins Haus!“
Ich muss immer noch lächeln wenn ich daran zurückdenke. Meine arme Mutter... schon mit zwei Jahren war ich schwerer im Auge zu behalten gewesen als ein Rudel Katzen. Dass mein Vater dann plötzlich aus der Stadt verschwand, machte es auch nicht einfacher. Aus diesem Grund war sie, was mich betraf, wohl auch so übervorsichtig, obwohl ich inzwischen 15 Jahre alt und damit beinahe ein Mann war.
***
Der Morgen lugte über die Gipfel der niedrigen Berge, die das Tal von Moondale einfassten. Ich unterdrückte ein Gähnen während ich die gepflasterte Straße entlang lief, die von sorgfältig gepflegten Vorgärten reich verzierter Villen gesäumt wurde. Ich hatte meinen Bogen und den Köcher - mit Pfeilen gefüllt - auf den Rücken geschnallt und ein Sax hing an meinem Gürtel. Ich war unterwegs zu dem Jagdgebiet meiner Familie, dem Waldstreifen, der am Ausgang des Tales die Ausläufer der niedrigen Berge verschluckte. Ich dachte über die Begegnung des gestrigen Abends nach. Die verletzte Wölfin tat mir leid. Seltsamerweise hatte ich keine Angst vor ihr. im Gegenteil, ich wollte sie wiedersehen. Mich um die Wunde an ihrem Lauf kümmern.
Heute Abend gehe ich noch einmal in den Wald. Ich riss mich aus meinen Gedanken. Ich sollte mich konzentrieren. Es war mitten im März. Auch wenn die Nächte noch frostig und kalt waren, Die Bäume knospten und die Sonne hatte an Kraft gewonnen. Sie wurde von den weißen Wänden der Villen reflektiert, an denen ich vorbei lief. Ich schnaubte bei ihrem Anblick. Säulen aus weißem Marmor, Stuckverzierungen, Ornamente, Kristallglasfenster… meiner Meinung nach war das ziemlich übertrieben. Die Gärten - oft nicht weniger üppig, mit kräftig riechendem Flieder oder Hyazinthen - wurden häufig von Mauern eingezäunt, die mit Efeu bewachsen waren und meist ein eisernes Tor aufwiesen. Eines dieser Tore fiel gerade hinter einem rot-blonden Jungen mit dunkelblauen Augen ins Schloss. Er winkte mir fröhlich und lief zu mir herüber. Sein pummeliges Aussehen täuschte über seine Sportlichkeit hinweg.
„Guten Morgen!“
Ich lächelte und winkte zurück. „Guten morgen, Jamie.“
Jamie O‘Neill war, seit ich denken kann, mein bester Freund. Nunja, beinahe auch mein einziger Freund.
„Du siehst müde aus.“
„Ich habe letzte Nacht schlecht geschlafen. Und du? Du bist auch früh auf, mein Freund.“
„Ich weiß, ich wollte dich mal wieder zur Jagd begleiten.“
„Gerne, hast du alles?“
Er zeigte auf den Bogen, den er sich um die Schulter gehangen hatte und nickte. Gemeinsam machten wir uns auf den Weg durch die Stadt.
„Es gibt Streitigkeiten mit dem Clan der McCann.“, berichtete Jamie mir.
„Schon wieder? Ich dachte, durch die Verteilung der Landgutsrechte des Tales wären wir sie endlich losgeworden.“
„Sie glauben, weil sie mit der Erblinie Gealaich verwandt sind, hätten sie Anrecht auf die gesamten Gutsländereien.“
Ich horchte auf. Das könnte Ärger bedeuten.
„Wird es zu einem Kampf kommen?“
„Noch versuchen sie es mit Diplomatie. Onkel Duncan und ich haben die letzten Tage am Verhandlungstisch verbracht. Warum warst du eigentlich nicht dort?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Wenn es um Diplomatie geht, lasse ich Mutter den Vortritt.“
„Aber bist nicht du Lord Argyll und Camhlaid, das Oberhaupt deines Clans?“
Ich rollte mit den Augen und verzog einen Mundwinkel. Es stimmte schon. Eigentlich hätte ich mit dem Erreichen meines vierzehnten Lebensjahres die Verpflichtungen der Familie übernehmen müssen. Doch was diese Dinge betraf, war es mir lieber, meine Mutter führte den Clan. Mir lag nichts daran ein Lord zu sein. Es war mir sogar unangenehm. Ich konnte mit dieser Welt einfach nichts anfangen.
„Ich vertraue das Adelsgetue gern meiner Mutter an. Ihre Weisheit hat sie immer gute Entscheidungen treffen lassen.“
Er nickte und wechselte dann das Thema. Wir erreichten die Häuser der Handwerker. Zwischen einfachen Bauten hatten sie ihre Werkstätten und Geschäfte errichtet. Aus dem Laden des Bäckers schwebte der herrliche Geruch frisch gebackenen Brots, was mich ein wenig hungrig machte. Als wir an der Werkstatt des Tischlers vorbei kamen, wurde die Tür aufgestoßen. Der Lehrling kam heraus, begleitet von den Geräuschen des Hobels, den sein Meister über ein Möbelstück zog. Er ging auf den Schuppen zu, vermutlich um Bretter und Balken herauszuholen. Als er uns sah, verbeugte er sich tief und murmelte ein undeutliches „M‘Lord“. Mit einigem Unbehagen nickte ich ihm zu und schritt weiter meines Weges. Der Schneider öffnete fröhlich pfeifend die Fensterläden und ließ das Sonnenlicht in seinen Laden fluten, durch dessen Fenster ich ein Chaos aus verschiedenen Stoffen, Bändern und Zierde erkennen konnte. Wir nickten ihm höflich zu.
„Hast du gehört?“, sprach mich Jamie wieder an, „William Borthwick hat seine Tochter mit dem Earl of Cassilis vermählt.“
„Agnes?“
„Du kennst sie?“
"Sicher. Das ist doch die Schwester von Alexander. Du weißt schon, dem Jungen, der letzten Sommer bei uns im Internat war.“
„Ach ja, ich erinnere mich.“ Er kicherte. „Wenn sie ihrem Bruder nur ein bisschen ähnelt, dann ist sie in Cassilis besser aufgehoben als in Midlothian.“
Wir lachten. Doch schon bald bedeutete ich meinem Freund zu schweigen. Wir hatten die ersten Bäume erreicht und ich kniete mich hin, um eine Spur auf dem Boden zu überprüfen.
„Ein Hase. Aber die Spur ist schon alt.“, flüsterte ich.
Langsam kroch ich über den Boden. Wir näherten uns einer Anhöhe, hinter der sich ein kleines Rinnsal den Hang hinunter bahnte. Ich hatte Glück. Ein Moorschneehuhn hatte sich dem Rinnsal genähert. Sein dunkles Gefieder stach aus dem blassen Grün der Wiese hervor. Langsam griff ich nach hinten und holte einen Pfeil aus meinem Köcher. Die drei Gänsefedern kitzelten an meinen Fingern. Ich legte den Pfeil in die Sehne und spannte den Bogen. Ein flacher, ruhiger Atem. Meine Gedanken, meine Konzentration, waren nur auf das vor mir hockende Huhn gerichtet. Ich hielt den Atem an. Nur den Bruchteil einer Sekunde. Kein Zittern befiel meine Finger. Die Pfeilspitze zeigte genau auf den Hals des Tieres. Dann ließ ich los. Die Bogensehne surrte und der Pfeil flog mit tödlicher Präzision davon. Ich grinste Jamie an und ging, um das Moorschneehuhn an meinen Gürtel zu binden.
„Ein guter Schuss, Nick.“
„Den nächsten bekommst du, mein Freund.“
Es war eine gute Jagd. Wir erwischten noch ein Kaninchen, zwei Fasane und einige Wachteln. Jamie war mit dem Bogen eben so gut wie ich und die Hälfte unserer Beute hing an seinem Gürtel. Kurz nachdem die Sonne ihren Zenit überschritten hatte, verließen wir mit einem zufriedenen Gefühl den Wald.
“Da haben wir genug Fleisch für eine Woche.“, sagte er mit einem glücklichen Ausdruck auf seinem Gesicht.
„Wir sollten zusehen, dass es nicht schlecht wird. Ich bringe die Tiere zu Tiana. Sie brät sie mit Butter und macht eine herrliche Wildbeerensoße dazu. Ich kann es kaum erwarten.“
Gut gelaunt liefen wir zurück zu der gepflasterten Straße und blieben vor dem eisernen Tor stehen, aus dem Jamie heute früh herausgetreten war.
„Sehe ich dich heute beim Rat der Clans? Wir besprechen, was wegen der McCann zu tun ist.“
„Was soll ich denn da? Mutter weiß, dass ich Dúghall McCann nicht unterstütze.“
„Na gut. Dann sehe ich deine Mutter, wenn sie in deinem Namen spricht.“
„Auf wiedersehen, mein Freund.“
Wir winkten einander noch einmal und dann verschwand er hinter dem eisernen Tor, während ich mich auf den Heimweg machte. Dort angekommen, brachte ich die Jagdbeute in die Küche, wo Tiana, unsere Köchin, mir die Wachteln und Fasane abnahm. Sie lächelte glücklich und bereitete die Vögel zum Rupfen vor. Der Wasserkessel hing schon über der Feuerstelle noch bevor ich die Küche verlassen hatte.
***
Auf Zehenspitzen bewegte ich mich durch das dunkle Haus. Es war bereits nach Mitternacht. Mutter und die Mädchen waren schon zu Bett gegangen. Mein Herz pochte, doch nicht aus Angst, sondern aus Vorfreude.
So ein schönes Tier. Könnte ich doch immer bei ihr sein. Ich erreichte die Haustür.
Moment! Da ist doch noch...! Ja, Fasanenbraten. Vielleicht hat sie Hunger. Ich schlich zur Küche, wo noch ein Rest des Abendessens lag. Ich wickelte ein großes Stück davon ein und schlüpfte in den Garten hinaus. Danach brauchte ich keine besondere Sorgfalt mehr darauf zu verwenden, möglichst leise zu sein. Ich schritt durch das kleine, eiserne Tor, das in die Hecken eingelassen war. Es quietschte leise als ich es hinter mir wieder ins Schloss fallen ließ. Der dunkle Wald wirkte, jetzt da der Mond hinter Wolken verborgen war, noch düsterer als in der Nacht zuvor. Ich hatte aber keine Probleme zu der Stelle zurück zu finden, an der ich der Wölfin begegnet war. Doch als ich dort ankam, war ich allein. Enttäuscht ließ ich die Schultern sinken und stieß die Luft aus.
Natürlich bin ich allein. Wieso bin ich davon ausgegangen, dass sie zu mir kommen würde? Ich hatte es gehofft. Vielleicht dachte ich wirklich, dass sie hier im Gras liegen und auf mich warten würde. Dumm. Das war es. Ich wollte nicht sofort zurückgehen und setzte mich auf den Baumstamm, wo ich den Fasanenbraten neben mir ablegte.
Ihr Kopf war schwer, als er in meinem Schoß lag. Und ihr Fell war gar nicht borstig, oder drahtig. So weich. So lebendig. In der Nähe knackte ein Zweig. Ruckartig drehte ich den Kopf in die Richtung aus der das Geräusch gekommen war. Sekundenlang rührte sich nichts. Dann tauchte die silberne Wölfin zwischen den Bäumen auf. Mein Herz hüpfte.
Sie ist hier. Ich lächelte und stand auf. Sie kam näher - selbst auf drei Beinen bewegte sie sich anmutig und elegant - blieb aber einige Meter vor mir stehen. Ein Knie ließ ich ins Gras sinken um ihr in die Augen schauen zu können. „Du bist gekommen“, flüsterte ich, gebannt von ihrem glatten Fell und ihrem schlanken Körper.
Majestätisch. Ein besseres Wort fiel mir nicht dafür ein. Sie ließ etwas vor mir ins Gras fallen. Es war das Taschentuch, das ich benutzt hatte, um ihren Lauf zu verbinden.
Sie hat es mir zurückgebracht. „Ist es abgegangen? Wie geht es deinem Bein? Lass mal sehen.“
Ich hielt die Hand ausgestreckt mit der Handfläche nach oben und sie verstand. Sie drehte sich zur Seite, sodass ich ihre Wunden untersuchen konnte. Der Kräuterumschlag hatte sich abgenutzt und die Wunde lag frei. Ein Fetzen Fell hing lose daran und es fehlte ein großes Stück Fleisch. Zumindest hatte es aufgehört zu bluten.
Das wird eine hässliche Narbe geben. Meiner Faszination für sie tat das jedoch keinen Abbruch. Ich hatte Wasser und saubere Tücher für einen frischen Verband mitgebracht. Ich reinigte die Wunde so gut ich konnte, schnitt vorsichtig den Fellfetzen ab und umwickelte die Wunde. Diesmal achtete ich auf einen sorgfältigen Knoten, sodass der Verband nicht wieder abgehen würde.
„So. Fertig.“, sagte ich lächelnd.
Die Wölfin leckte mir dankbar über die Hände. Ich kraulte sie hinter den Ohren. Dann griff ich nach dem Fasanenbraten, der noch auf dem Baumstamm lag.
„Ich habe dir etwas mitgebracht, liebe Freundin.“
Sie leckte mir einmal freudig über die Wange, bevor sie zu Fressen begann. Seltsam. Obwohl ich damals Angst hätte haben müssen, war ich von der Schönheit und Anmut der Wölfin wie gebannt. Was war es, das mich so stark zu ihr hinzog?
Ich will diesen Ort gar nicht mehr verlassen. Ich setzte mich in den Schneidersitz, lehnte den Rücken an den Baumstamm und begann, ihre Flanke zu streicheln. Entspannt und glücklich schloss ich die Augen. Ich dämmerte gerade in den Schlaf als die Wölfin mich anstuppste. Ich verstand. Sie wollte nicht, dass ich die Nacht im Wald verbrachte. Traurig sah ich sie an.
„Wirst du zurückkommen?“
Ihr kopf zuckte. Noch einmal leckte sie mir liebevoll über das Gesicht und verschwand dann zwischen den Bäumen. Ich machte kein Geräusch als ich zurück auf mein Zimmer schlich.
***
Am nächsten Morgen - so wie jeden Morgen - holte Jamie mich ab. Gemeinsam legten wir den Weg zur Schule zurück. Das imposante Gebäude stammte noch aus der Zeit, als unsere kleine Stadt gegründet worden war. Damals hatte der Lord in dem geräumigen Herrenhaus gewohnt. Als der alte Mann starb, stand das Haus lange leer, bevor es restauriert und als Schule hergerichtet wurde. Jetzt kroch wilder Wein stellenweise wie Blut an den Mauern der Fassade hinauf und rahmte einige der hohen, schmalen Fenster ein. An der Seite des Hauses befand sich ein kleiner Turm, der ein Treppenhaus barg. Breite, helle Sandsteinstufen führten hinauf zu einer schweren Eingangspforte, die von eisernen Beschläge eingefasst wurde. Unsere liebste Ecke jedoch war ein kleiner halbrunder Pavillon, der sich an die Hauswand anschmiegte. Am Nachmittag wurde der Bereich von der Sonne durchflutet und eine kleine Sitzgruppe lud zum Verweilen ein. Unser Klassenzimmer war recht einfach ausgestattet. Mit breiten Tischen aus dunkel lackiertem Holz, vor denen unbequeme Stühle standen, auf denen nur ein dünnes Kissen für moderate Bequemlichkeit sorgen sollte ... erfolglos. Vor uns stand ein hagerer, hochgewachsener Mann mit wirr abstehenden, dunkelgrauen Haaren und viel zu langen Armen, tippte mit seinen Fingern immer wieder an die Brille und versuchte uns etwas über Musik zu lehren. Heute philosophierte Mr. Finley über ein altes, schottisches Lied, das zu vielen Anlässen auf der Fidel gespielt wurde.
"In vielen Liedern unserer Kultur ist die Fidel, nebenbei bemerkt mein liebstes Instrument, als melodiegebendes Element nicht mehr wegzudenken. Dabei ist es eine schwierige Kunst, sie zu meistern. In diesem Stück ist die Verwendung der Fidel, die doch eher als fröhliches Element angesehen wird, jedoch als Kontrast zu dem lyrischen Thema zu sehen, das doch eher bedrückend ist."
Wie jeder im Internat mochte auch ich den Kunstunterricht. Mr. Finleys philosophische Betrachtungen von Lyrik und Poesie, sowie die Begeisterung, mit der er uns davon erzählte, hatten schon einige meiner Mitschüler dazu animiert, sich an eigenen Werken zu versuchen. Liam hatte einmal einen ganzen Satz Gedichte verfasst und Iomhair hatte sich an einer Melodie versucht. Ich selbst war weder Dichter noch Liederschreiber, doch ich genoss die philosophischen Gespräche über Bild und Sinn der Lyrik vieler Lieder. Am Ende eines jeden Unterrichtes, spielte Mr. Finley das betrachtete Lied auf seiner Fidel. Als die Schlussglocke läutete, war ich sicher nicht der Einzige, dem die Schulstunde viel zu kurz vorkam.
***
Dieses weiche Fell, und sie riecht nach Wind... ist sie heute viel gelaufen? Ich saß im weichen Gras, das langsam seinen nächtlichen Tau ansetzte. Die Wölfin hatte sich angelehnt, meine Hand streichelte ihre Flanke, meine Nase lag vergraben in ihrem Fell. Ich fühlte mich wohl. Zufriedenheit und Ruhe erfüllten mich und ich fühlte mich sicher. Mit geschlossenen Augen malte ich mir aus, wie sie durch den Wald lief. „Lass mich mal nach deinem Lauf sehen. Heilt die Wunde?“
vorsichtig löste ich ihren Verband. Über der Wunde hatte sich eine dünne, trockene Hautschicht gebildet. „Sieht gut aus. von nun an können wir den Verband weglassen. Da muss Luft an die Wunde kommen, dann heilt sie schneller.“
Die Wölfin legte sich wieder hin. Seufzend nahm ich sie in den Arm. „Wenn ich doch nur bleiben könnte.“ Der Gedanke, von hier wegzugehen bedrückte mich und je länger ich es hinauszögerte, umso größer wurde die Schwermut in mir. Die Wölfin drückte ihren Kopf an meine Brust und kuschelte sich an mich. Es wurde Zeit. „Begleitest du mich an den Waldrand, meine Liebe?“
Als hätte sie mich verstanden, stand sie auf, den verletzten Lauf hielt sie eng angezogen.
„Tut es noch weh? Versuche mal, ihn abzusetzen - vorsichtig, bitte.“
mit leichten, tastenden Bewegungen, setzte sie ihre Pfote auf die Erde. Ich konnte sehen, wie sie vorsichtig mehr Gewicht auf den Lauf übertrug. Gehen konnte sie damit noch nicht, dafür war die Belastung zu groß, aber nun ruhte Ihr Gewicht wieder auf allen vier Pfoten. Sie schaute mich an, mit diesen seltsamen Augen, und es kam mir vor, als schaue sie direkt in meine Seele hinein. Dann liefen wir Seite an Seite zum Waldrand. Der Weg war nicht weit, aber ich genoss jede Sekunde, die es dauerte. Als die letzten Bäume in Sichtweite kamen, hielten wir an. „Wir müssen darauf achten, dass dich niemand sieht. Auf Wiedersehen, liebe Freundin. Ich komme zurück sobald ich es kann.“
Dann überquerte ich den Flecken Gras, der zwischen dem Waldrand und den Hecken unseres Gartens lag, schlüpfte durch das Tor und zurück in mein Zimmer.
***
Lustlos stocherte ich in meinem Abendessen herum. In meinen Gedanken war ich bereits im Wald. Ich hatte unter der Treppe einen Beutel mit Fleisch und einer dünnen Decke versteckt. Heute war es kalt.
Ich hoffe, die Wunde hat sich nicht wieder geöffnet. Hätte ich doch lieber nochmal einen neuen Verband anlegen sollen? Seltsam... wie viel sie mir schon jetzt bedeutet. Nur... Es fühlt sich so natürlich an, bei ihr zu sein.„… haben Sympathie zu den McCann bekundet.“
Etwas verwirrt blickte ich von meinem Teller auf.
„Wie bitte?“
„Conran McBróghan glaubt, dass den McCann tatsächlich zu wenig Land zugesprochen wurde.“
Politisches Geplänkel. Seit Monaten ging es nur noch um den Anspruch der McCann. Wenn Dùghall McCann seine Unterstützung ausbaute, würde es sicher bald zum Kampf kommen. Mutter sprach mich erneut an.
„Was hälst du davon, Nick?“
Ich dachte kurz darüber nach. Ein Kampf musste verhindert werden. Doch wie? Mir kam nur eine Idee. Sie versprach zwar nicht gerade viel Erfolg, doch ich musste es versuchen.
„Ich möchte mit den Lords sprechen. Als erstes mit Lord McCann.“
„Der Sturkopf wird dir nicht zuhören, wenn wir uns nicht klar für ihn aussprechen.“
„Was ist mit seinem Sohn? Er wäre alt genug, die Belange der Familie zu vertreten.“
Meine Mutter, die sonst immer eine beherrschte Ruhe ausstrahlte, erstarrte und ein verwirrter Ausdruck trat auf ihr Gesicht.
„Nun, Breac ist zugegebenermaßen ein Mann der Vernunft. Aber was willst du durch ihn bezwecken?“
„Ich denke, um einen Kampf zu verhindern, müssen die McCann ein Gebietsabkommen unterzeichnen. Wenn sie einer Neuverhandlung der Grenzen zustimmen, könnten wir das Problem lösen und auch zukünftige Familienansprüche der Clans zweifelsfrei klären.“
Mutter seufzte. „Du warst schon immer ein Idealist, aber bei der Clansversammlung wirst du niemals eine Neuverhandlung der Clansgrenzen erreichen.“
„Warum nicht? Möchten die Lords des Tales den Frieden nicht wahren?“
Sie seufzte. „In einem Raum, in dem alle Lords zusammen sitzen, wird keiner von ihnen auch nur einen Fuß weichen. Sie würden glauben, sich angreifbar zu zeigen.“
„Und was schlägst du vor?“
„Laden wir die Lords zu einer persönlichen Unterredung, wird deutlich, dass wir mehr am Frieden interessiert sind als an politischem Ansehen, was unsere politische Position von vorn herein stärken würde.“
Ich dachte kurz darüber nach und nickte dann. „Lade Breac McCann doch bitte zu uns ein. bezüglich Sir O‘ Neills rechne ich mit voller Unterstützung. Die Lords Colm und Kieran überlasse ich dir."
Sie nickte zufrieden.
Ich entschuldigte mich und zog mich auf mein Zimmer zurück, um später aus dem Haus zu schleichen - Den Beutel, der noch unter der Treppe verborgen lag, über der Schulter.
Als ich auf der Lichtung ankam, wartete sie bereits auf mich. Ich lächelte, wie immer, weil ich mich so sehr freute bei ihr zu sein. Sie zeigte ihre Freude, indem sie aufsprang und mir entgegen lief. Ich nahm sie kurz liebevoll in die Arme. Dann setzte ich mich auf den umgefallenen Baumstamm, der zu „unserem“ Platz geworden war. Sie kam zu mir. Ihre ungewöhnlich menschlichen Augen fixierten mich mit einem neugierigen Blick. Sie drangen tief in meine Seele ein, schienen nach etwas zu suchen. Es war, als wolle sie mir etwas sagen. Eine Stimme schwebte durch meinen Kopf. Sie war wild und primitiv. Sie klang wie der Wind, der durch die Blätter fegte.
„…vielleicht Kannst du es nicht…"
„Was? H-habe ich… hast du… nein... Wölfe können doch nicht reden? W-Wie ist das möglich?“
„Beruhige dich! Ich habe dich oft gerufen. Ich fürchtete, du hast die Gabe nicht."
„Wovon redest du da? Welche Gabe? Wie ist es möglich, dass du sprechen kannst?“
„Die Gabe des Wolfes. Du fragst warum... die Antwort kenne ich nicht. Es ist spät."
Sie wandte sich dem Wald zu.
„Warte! ... kannst du… hast du einen Namen?“
„Kannst du das nicht spüren? Konzentriere dich.“
Ich schloss die Augen und horchte in mich hinein. Am Rande meines Bewusstseins nahm ich die Präsenz eines anderen Wesens wahr. Eine dunkelviolette Aura umschlang sie wie ein Nimbus, ein wilder Geschmack legte sich auf meine Zunge, ein erdiger Geruch stieg mir in die Nase und meine Lippen formten flüsternd einen Namen: "Naleesha!"
Sie nickte und mit einem großen Satz verschwand sie zwischen den Bäumen.
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vielen Dank, dass ihr euch alle so viel Mühe gebt und ich hoffe, dass das Kapitel nun endlich gut geworden ist.
liebe Grüße,
Eure Nalee