Siri Hustvedt - »Die gleißende Welt«
Harriet Burden, eine erfolglose Künstlerin, die sich als Frau in der New Yorker Kunstszene diskriminiert fühlt, ersinnt einen Plan: Drei Männer sollen Burdens Werke als ihre eigenen präsentieren und so die unterschwellige Misogynie der Kritiker entlarven. Was zwei mal bestens funktioniert, geht beim dritten Mal gehörig schief, als Burden in ihrem dritten Repräsentanten ungewollt einen intellektuellen Gegenpart findet, der eine eigene und auf den ersten Blick durchaus grausame Agenda verfolgt.
Ich war mehrmals kurz davor, das Buch in den Müll zu schmeißen. Die Protagonistin widert mich an, in ihrer hochintellektuellen Blindheit, ihrem feministisch-fehlgeschlagenen Selbstmitleid, ihrem Mangel an Reflektion und ihrer in sich selbst gefangenen Prätentiösität. Hinzu kommt eine dem Text zugrunde liegende Holzhammersymbolik, die ich eigentlich unverzeihlich finde. Ich muss zugeben, dass ich einige Passagen sogar überblättert habe. Dass ich dachte: Da kommt nichts mehr.
Und dann kam Rune.
Harriet Burdens dritte Maske, ihr dritter Stellvertreter, ein angesehener New Yorker Künstler, in der Szene verhätschelt, von Kritikern gefeiert. Ein Mann, den wir nur von außen betrachten, durch Burdens Augen, durch Interviews und Rekonstruktionen, durch Aussagen, die sich laufend widersprechen.
Ich will das Buch nicht spoilen, deswegen schreibe ich hier einfach nur: Ich bin schwer beeindruckt. Ich kann mich nicht daran erinnern, wann mir ein Charakter das letzte Mal in meinem Leben persönlich so nahe gegangen ist.
In dem Moment, in dem die Beziehung zwischen Harriet und Rune an Fahrt gewann, wurde das Buch für mich zu einem gigantischen Autounfall, bei dem ich nicht mehr wegsehen konnte.
Die Charakterzeichnungen beider Beteiligter sind in dieser Konstellation in meinen Augen überragend. Harriets Blindheit, ihr gefilterter Blick, ebenso wie Runes Vielschichtigkeit als Maske unter der Maske unter der Maske. Gottverdammt. Ich bin bereit, diesem Buch sämtliche Unzulänglichkeiten nachzusehen, und da sind einige. Nichts davon spielt eine Rolle. Das letzte Drittel des Romans hat eine exquisite Wunde in mir aufgerissen, und genau das erwarte ich von Literatur.