Nun, auf denn, ergründen wir das Rätsel des Steins der Weisen, der auf englisch „Philosophers Stone“ heißt.
Kleine Anmerkung: Mich hat's hier sehr gegriffen und ich hab viel geschrieben. Ich erwarte nicht, dass andere Kapitelpaten das genau so ausführlich machen.
Das erste Kapitel trägt die Überschrift „The Boy Who Lived“, was Klaus Fritz übersetzt hat mit „Ein Junge überlebt“. Ich hätte für mich „Der Junge, der lebte“ daraus gemacht, auch wenn „überlebte“ für mich als Bedeutung enthalten ist. „Überlebt“ klingt einfach viel spannender und trifft den Kern der Sache.
Ich gebe zu, für mich hat der erste Satz eines Romans immer einen gewissen Zauber. Er animiert mich zum Weiterlesen – oder lässt es bleiben. Und weil ich in diesem Fall sogar zwei erste Sätze habe, mag ich Euch beide nicht vorenthalten:
Mr. und Mrs. Dursley im Ligusterweg Nummer 4 waren stolz darauf, ganz und gar normal zu sein, sehr stolz sogar.
Mr. and Mrs. Dursley, of number four, Privet Drive, were proud to say that they were perfectly normal, thank you very much.
Ich bin entzückt davon, wie Fritz die Adressnennung übersetzt hat: „Ligusterweg vier“ hätte ganz anders gewirkt. Und spannend finde ich auch, wie er diesen ersten Satz verändert hat. Ich hätte wortwörtlich erstmal daraus gemacht:
Herr und Frau Dursley aus dem Ligusterweg Nummer 4 waren stolz darauf, ganz und gar normal zu sein, vielen, vielen Dank.
Im Vergleich der beiden deutschen Varianten (die von Übersetzerin merin und Übersetzer Fritz) wird deutlich, dass meine flapsig und deplatziert wirkt, während Fritz den Ton konventioneller Unterhaltungen, den Rowling angeschlagen hat, viel besser getroffen hat, als es bei der wörtlichen Übersetzung der Fall wäre. Und dieser Ton charakterisiert die Dursleys, genau so wie die Ligusterhecke. Ich habe sofort eine Idee, wer sie sind: Langweiler.
Der zweite Satz bestätigt dies: niemand würde sie mit „merkwürdigen oder geheimnisvollen Geschichten“ in Zusammenhang bringen. Und indem Rowling dies benennt, hat sie gleich einen nicht wirklich dezenten Hinweis darauf gegeben, dass es darum geht, dieses stinknormale Paar mit „solchem Unsinn“ zu konfrontieren. Ich glaube, dass sie damit das durchschnittliche Kind und so manchen Junggebliebenen auf ihrer Seite hat: Sich ein bissel über Spießer lustig zu machen ist doch immer gut. Und dass sie das tun wird, zeigt sie gleich mit der folgenden Beschreibung, in der Herr und Frau Dursley gar nicht gut wegkommen. Er arbeitet bei einer Bohrmaschinenfirma („wie langweilig“) und ist dvon der Beschreibung her der „Typ Bauarbeiter“. Bullig und mit dem in meinem Umfeld belächelten Oliba. Grammatikalisch stellt Rowling das als Gegenteil hin (kein Hals, dafür aber Bart) – das ist auch genau so übersetzt. Dabei ist es gar kein Gegensatz – das wirkt komisch. Frau Dursley habe doppelt so viel Hals – ich habe vor meinen inneren Augen mehrere Doppelkinne, was die Autorin gleich korrigiert: Es geht um die Länge des Halses zum Nachbarn-Ausspionieren. Auch das wirkt komisch. Frau Dursley hat offenbar keinen Beruf, wir haben hier also eine klassisch anmutende Rollenverteilung. So ganz klassisch ist die Familie allerdings nicht, sie hat nämlich (erstmal) nur ein Kind: Klein Dudley.
Ich finde es merkwürdig, dass die Autorin es schafft, mich für Familie Dursley zu interessieren, obwohl sie die Familie erstmal als Feinbild aufbaut. Die ganze erste Seite ist eigentlich nur dazu da, Dursleys als möglichst unsympathisch darzustellen: Eine Familie, deren größte Sorge es war, mit Leuten in Verbindung gebracht zu werden, die anders waren als sie.
Mich hat das beim ersten Lesen des Buches gar nicht gestört, aber nun, beim dritten Lesen, finde ich es immer noch unterhaltsam geschrieben, mit viel Sprachwitz, aber mir ist es zu gemein. Ich bekomme Mitgefühl mit diesen Menschen und finde, dass Rowling sie gar nicht gut behandelt. Ich weiß ja auch, was noch alles kommt.... Schon die Namenswahl ist irgendwie „zum Schießen“, jemand der Dudley Dursley heißt, ist irgendwie nicht wirklich ernstzunehmen.
Die Szene, in der Herr Dursley sich verabschiedet, könnte liebevoll wirken. Aber Rowling zieht sie ins Lächerliche: Dursley gibt seiner Frau keinen Kuss, sondern einen „Schmatz“ (im Englischen: „Peck on the cheek“) und der kleine Sohn hat einen Wutanfall, dessen Auslöser uns verschwiegen wird – und der daher wie die Verzogenheit eines verwöhnten Görs wirkt. Rowley steuert damit die Sympathien der Leser gezielt und durchaus nicht ungeschickt: Schon als wir den Jungen im Hochstuhl das erste Mal sehen, wirkt er unsympathisch – eine gute Vorbereitung auf seine spätere Rolle als Quäler des Buchhelden.
Aber weiter im Text: Dort taucht nun das erste der bereits doppelt angekündigten „merkwürdigen und geheimnisvollen Dinge“ auf: Ein Kauz, den niemand sieht und eine lesende Katze, die Herr Dursley sieht, aber bewusst ignoriert. Wir als Leser sind da natürlich schlauer: Wie wissen, die Katze hat eine Bedeutung.
Rowling benutzt hier einen sehr durchschaubaren Trick: Sie erzeugt Spannung, in dem sie Vorgriffe macht und auf Interessantes hinweist. Und mit einem zweiten Trick stößt sie uns mit der Nase auf das Besondere, indem sie Dursleys Bemühungen schildert, es mit „normalen Erklärungen“ zu versehen. Wir nehmen es ihr nicht übel, ich glaube, weil sie ein Kinderbuch schreibt. Da darf es auch einfach sein. Vielleicht lassen wir Leser uns auch gern an die Hand nehmen und führen – inklusive Einordnung, wer gut und wer böse ist.
Die auktoriale Erzählerin bleibt sehr nah an Dursley und wir folgen ihr willig, weil wir wissen, dass sein betont langweiliger Alltag nicht das Eigentliche ist. Interessanterweise gibt es auf Seite 8 in meinem Buch eine Stelle, die ich bei einer Röstung als Perspektivfehler angemahnt hätte: Dursley „blieb wie angewurzelt stehen. Angst überkam ihn. Er wandte sich nach den Flüsterern um, als ob er ihnen etwas sagen wollte, besann sich dann aber eines Besseren.“
Während „Angst überkam ihn“ nur aus einer Innensicht geschrieben werden kann, ist „als ob er ihnen etwas sagen wollte“ von außen beobachtet. „Besann sich eines Besseren“ ist wieder Innensicht (Im Englischen ist die Stelle genau so.). Für mich macht dieser Wechsel der Perspektive an dieser Stelle keinen Sinn. Das Einzige, was ich mir denken kann, ist, dass Rowling möchte, dass wir uns von Dursley distanzieren und sie dies bewirkt, indem sie die Erzählerin kurz von außen draufschauen lässt.
Und ein anderer Fehler fällt mir auf: Im Text ist abwechselnd von Bohrern und von Bohrmaschinen die Rede, auf die sich Dursley konzentrieren möchte. Beides wird austauschbar benutzt – dabei ist es etwas ganz anderes. Technisch versiertere Leute werden mir sagen könnten, ob es wahrscheinlich ist, dass eine Firma beides herstellt und vertreibt und Herr Dursley für beides zuständig ist. Im Englischen hat Rowling das Problem nicht, weil komischerweise beides nur ein Wort hat: drill. Ich kann nicht gut genug Englisch um eine Idee zu haben, ob Rowling die Worte in alternierender Bedeutung verwendet oder nicht.
Dursley übt sich im Ignorieren und stolpert auf dem Nachhauseweg in einen Mann mit Umhang, der merkwürdig spricht und das uns unbekannte Wort Muggel verwendet. Das ist ein Hinweis auf die Parallelwelt, die eigentlicher Inhalt des Buches sein wird. Diese Hinweise auf eine Parallelwelt verdichten sich langsam und ich als Leserin habe die Idee, dass diese Welt irgend etwas mit Eulen, sprechenden Tieren, Umhängen und „Muggeln“ zu tun haben muss, was auch immer das ist. (Kleiner Exkurs: Im Geocaching, eines meiner Hobbies, ist das Wort „Muggel“ inzwischen fester Sprachbestandteil und bezeichnet Uneingeweihte, die von den versteckten Schätzen nichts wissen und vor denen man unauffällig handeln muss. Rowling hat hier also ein Wort erfunden, das in andere Bereiche übergegangen ist und dort zum festen Sprachschatz gehört.)
Dursley erweist sich als recht engagierter Papa und bringt seinen Sohn ins Bett. Dann hört er in den Nachrichten von mysteriösen Eulenschwärmen und wir bekommen einen weiteren Hinweis auf die Parallelwelt: Frau Dursleys Schwester gehört dazu.
Dann schauen wir der Katze beim Schauen zu und eine weitere wichtige Person hat ihren ersten Auftritt: Albus Dumbledore. Der taucht einfach so aus dem Nichts auf und wird beschrieben. Auf eine Art, bei der wir gleich wissen: Ein normaler Mann ist der nicht. Ich habe, wie er, sehr langes Haar, aber ich käme nie auf die Idee, es in meinen Gürtel zu stecken. Das passiert gelegentlich aus Versehen, aber es ziept und ist unpraktisch, weil es die Bewegung einschränkt. Bei einem Bart stelle ich es mir noch unpraktischer vor. Ein Umhang bis zum Boden ist ebenso unpraktisch (man bliebe ständig hängen, liefe Gefahr draufzutreten und würde Schmutz auflesen). Ich denke, das dient alles der Charakterisierung: Er soll wie jemand aussehen, den es selbst in Berlin nicht auf der Straße zu sehen gibt. Die gebrochene Nase passt für mich nicht dazu – warum ist die wohl da?
Als nächstes wird McGonagall vorgestellt: Sie ist die Katze und wird als steif dasitzend charakterisiert – und als ernst blickend. Die beiden unterhalten sich, wobei McGonagall sich als besorgte Frau gibt, die möchte, dass die Ihren sich besser verbergen, während Dumbledore da sanfter wirkt – und auch kindlich: Er bietet ihr ein Brausebonbon an, an einer für mich ganz unpassenden Stelle des Gesprächs. Und McGonagalls Reaktion wird so beschrieben, dass ihre normale Reaktion („Ein was?“) komisch wirkt – nicht sein Angebot. Und er sagt auch später komische Sachen, Sachen die ich als Kind verteufelt witzig gefunden hätte (er wurde rot, weil er ein Kompliment für Ohrenschützer bekam). In dem Gespräch erfahren wir nun Harrys Vorgeschichte und Voldemort wird eingeführt. Spannend, den Helden und den Kontrahenten zeitnah in einem Gespräch und auch gleich als Gegner: Voldemort versuchte, Baby-Harry zu töten, aber der tötete aus irgend einem Grund statt dessen den Superbösewicht. Das ist nun wirklich ein dickes Ding – ein Superbaby! Das wird in dem Gespräch bestätigt – und ist es nicht der Wunsch eines jeden Kindes: Ein Held zu sein, ganz ohne eigenes Zutun?
Dumbledore will ihn vor diesem Heldentum beschützen und genau deshalb soll der zu den Dursleys. So ganu leuchtet mir das nicht ein, muss ich sagen. Wäre es nicht besser, ihn zu Pflegeeltern zu geben, die ihn wirklich haben wollen?
Dann tritt Hagrid auf – als auf einem Motorrad donnernder Riese und bringt Harry. Von dem wir erstmal nichts weiter sehen als schwarze Haare und eine Narbe – die Narbe. Sie ist das, was ihn äußerlich von anderen unterscheidet, der Makel, der zugleich Ritterschlag ist, weil sie sein Heldentum zeigt, zeigt, was er überlebt hat. Dumbledore weigert sich, sie zu entfernen, aber gibt eine hanebüchene Erklärung dafür. Will er, dass das Kind gezeichnet ist? Nein, ich glaube, Rowling will es. Und weil es in einer Zauberwelt unklar ist, warum nicht alle Makel entfernt werden könnten, lässt sie Dumbledore witzeln – und Harry seine Narbe behalten.
Dann kommt die Szene, in der er ausgesetzt wird – eine Grundszene in Geschichten. Schon Mose wurde ausgesetzt und dann von einer Königsfamilie aufgezogen. Hier ist es anders: Potter stammt aus der „Königsfamilie“, wird Waise und kommt nun zu den „Normalen“, den „Spießern“. Es ist ein Thema, das wohl jedes Kind kennt, besonders in Zeiten, in denen es sich unverstanden und ungeliebt fühlt: Sich zu wünschen, man hätte andere Eltern, die perfekt geliebt hätten und wäre eigentlich vollkommen und heldenhaft. Und was eignet sich besser zur Idealisierung als tote Eltern, die dem Kind bislang nur eine große Enttäuschung zugemutet haben und das völlig unverschuldet: ihren Tod?
Wir wissen nicht genau, wie alt Harry ist: Die Hinweise (vorher vermuten Dursleys, er sei in Dudleys Alter und der sitzt im Hochschul und ist Brei, ist also eher 9 Monate alt oder so – jetzt wird er wie ein Neugeborenes präsentiert) sind widersprüchlich. Aber er ist ein in Leintücher gewickeltes Baby – wie Jesus in seiner Krippe. Ich mein: Wer wird im 21. Jahrhundert real noch in Leintücher gewickelt? Niemand – es geht um das Motiv. Und die Leute in den Umhängen klingeln auch nicht und übergeben den Jungen – was in jedem Fall die sicherere Variante wäre – nein, sie legen ihn auf der Schwelle ab. Es geht um das Bild des Findelkindes. Ein übergebenes Kind ist keins. Aber eines, das man auf der Schwelle findet schon. Ich frage mich grade, wie das real heute in Großbritannien wäre: Müsste man nicht die Polizei einschalten? Wo und wie wird ein Findelkind gemeldet?
Egal: Wir haben dieses surreale Bild: Ein selig schlafendes Kind auf einer Treppe (es muss warm sein, damit er nicht friert, aber darüber erfahren wir nichts). Das Kapitel schließt mit einem Vorausblick: Petunia wird ihn schreiend finden (kein Wunder, ich würd auch schreien, wenn ein Baby vor meiner Tür läge, wobei hier niemand morgens Milch bringt, aus welcher Zeit stammt denn diese Idee?), Dudley wird ihn „peinigen und piesacken“ (harte Worte!) und nun kommt auch noch „der Junge, der lebt!“- im Englischen genaue Wiederholung der Kapitelüberschrift und auch im Deutschen ein schöner Bogen zum Anfang des Buches.